Die weiße Galeere

Wie ein Schiff im Hafen

Wie ein Schiff im Hafen

Die S-Klasse symbolisiert wie kaum ein anderes Auto der 70er Jahre Macht, Geld und Status in einem eigentlich sehr bunten Deutschland. Das Ding war mein Traumwagen, seit ich in der „Galeere“ auf dem Rücksitz ins Kino kutschiert wurde. Und es war auch das absolute Lieblingsauto von Kay Paffraths Vater. Grund genug für den Hamburger, sich so eine Trutzburg als 280 S in Weiß zu besorgen – und damit gemeinsam mit mir eine andere Trutzburg an der Elbe zu besuchen. Mit der aus dem Vollen gefrästen Limousine zur nie fertig werdenden Elbphilharmonie. Steigen Sie mit ein? Gern hinten rechts?

Kays Vater war ein Sternenjünger. Er hatte sich klassisch automobil hochgearbeitet, fuhr erst Strich-8 und mehrere 123er von der Wanderdüne 200D bis zum 230E. Und dann sollte es die erste Oberklasse werden, man muss sich ja steigern können.

Damals war noch mehr Lametta

Damals war noch mehr Lametta

Es wird so um 1979 gewesen sein, als der alte Herr Paffrath bei Mercedes-Benz in Hamburg-Wandsbek seinen weißen 280 SE kaufte. Achten Sie auf das Nummernschild und vergleichen Sie 🙂 Die Familie inklusive Sohn Kay war endlos begeistert vom verschwenderischen Platzangebot, dem kommoden Komfort der blauen Karositze und dem seidenweichen Geflüster des doppelnockigen Reihensechsers. Und Geld sollte die riesige Limousine nebenbei auch noch einbringen – der Herr Papa nutzte den umlackierten Wagen noch bis 1986 in Hamburg nebenberuflich als Taxi. Vielleicht sind Sie damals ja schon mal bei ihm eingestiegen und wissen das gar nicht mehr?
Tatsächlich besaß man hier plötzlich eine ganz neue Klasse, in den Werbeprospekten erstmals S-Klasse genannt. So viel unangezweifelte Autorität sollte danach nie wieder eine Oberklasse ausstrahlen. Wahrscheinlich deshalb blieb das weiße Schlachtschiff stets im Kays Kopf hängen. Wie alle anderen Jungen der 70er hatte auch er mindestens ein Matchbox-Auto dieses Typs oder ein größeres Plastikspielzeug mit Kabelfernbedienung. Ich auch. Meins war gelb.

Noch immer vollgasfest und komfortabel

Noch immer vollgasfest und komfortabel

2012 findet er im Internet endlich eine S-Klasse, die fast genau so aussieht wie die seines Vaters – allerdings ohne das E hinter dem S, also „nur“ der kleine Reihensechser mit großem Vergaser unter der Haube. Der Wagen war im Norden unterwegs und bis 2002 lückenlos bei einem Mercedes-Benz-Partner im schleswig-holsteinischen Elmshorn gewartet worden. Da der Motor nicht anspringt, geht die Zeitmaschine für relativ kleines Geld an den Hamburger Unternehmer, der nach einer Woche Herumprobieren den Fehler findet: Die Vorwiderstände der Zündspule sind defekt. Er tauscht sie – und der grundsätzlich für die Ewigkeit gebaute Motor springt nach der ersten Anlasserumdrehung an.

Dran drehen und dann genießen

Dran drehen und dann genießen

Gut Ding will Weile haben, und nachdem er so lange gesucht hat kommt es jetzt nicht mehr auf eine Woche mehr oder weniger an. Mehr als ein halbes Jahr werden nach und nach alle kleinen Arbeiten an dem betagten Schiff erledigt, das sich in einem insgesamt gesunden Zustand befindet. Die rostigen oder schlecht geschweißten hinteren Radläufe weichen neuen, genau wie die klassisch maroden unteren Lampentöpfe. Die vorderen Querträger haben dem bundesdeutschen Salz von mehr als drei Jahrzehnten nicht standgehalten und weichen frischem Stahl, die angerostete hintere rechte Tür bekommt einen originalen Nachfolger und das Schiebedach lässt sich mit ein wenig kosmetischem Aufwand noch im Original retten.
Auch im Inneren des dicken Dampfers werden keine Kompromisse gemacht, der durchgesessene Fahrersitz bekommt ein neues Federgestell, diverse fehlende oder zerbrochene Verkleidungsteile besorgt Paffrath nach und nach und sämtliche Dichtungen an den Scheiben, den Türen und dem Kofferraum werden gegen neue ersetzt. Nun regnet es auch nicht mehr durch die Windschutzscheibe rein, das ist in Norddeutschland gar nicht so unwichtig.

Viel Wohnraum, gut isoliert

Viel Wohnraum, gut isoliert

Derartige Blessürchen waren natürlich alle kein Thema, als die Daimler-Benz AG 1972 dem solventen Kunden ein aus dem Vollen gefrästes Statussymbol präsentierte und damit Deutschlands Bosse – und ihre kriminellen Gegner gleichermaßen – bediente. Das Land wurde gebeutelt von Terrorismus, gesellschaftlichen Umwälzungen, wirtschaftlicher Rezession und der Ölkrise. Helmut Schmidt, hanseatischer Andersdenker und Steuermann der Republik in schweren Zeiten, nahm im „Auto des Jahres 1972“ hinten Platz. Auto des Jahres. Zum ersten Mal überhaupt wurde einer Oberklasselimousine dieser Titel verliehen, die Tester sprachen magazinübergreifend vom „Besten Auto der Welt“. Und wenn Schmidt in so einem Wagen ab 1974 vorm Kanzleramt vorfuhr, nahm man ihm ab, dass er das alles in Deutschland schon irgendwie bewältigen wird.

In der Summe der Eigenschaften war die S-Klasse zu dieser Zeit noch quasi konkurrenzlos. Technikvorstand Hans Scherenberg und Chefstylist Friedrich Geiger bestückten den Technologieträger mit passiven und aktiven Sicherheitsmerkmalen und trieben das Über-Auto mit dem breiten Kühler, den verchromten Doppelstossstangen, den breiten rechteckigen Scheinwerfern (nach einer langen Ära der hochkant gelagerten Leuchtmittel) und den lang gezogenen Rücklichtern optisch in eine wuchtige Horizontale. Der intern W116 genannte Raumgleiter galt von Anfang an als technisch ausgereiftes Fortbewegungsmittel für die Macher aus Politik und Wirtschaft, die sich in der aufgeschäumten Kunststofflandschaft zwischen Leder, Palisanderholzdekor und Zierleisten sicher und zu Hause fühlten.

Schalt mal wieder.

Schalt mal wieder.

Jedes Yin hat auch ein Yang. Als Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer 1977 von der RAF entführt wurde, saß er in einem 450 SEL. Ich denke, wir alle kennen die schwarz/weißen furchtbaren Bilder von dem durchsiebten Fahrzeug mitten auf der Kreuzung. Die S-Klasse brauchte nicht lange, um als verhasstes Symbol des Imperialismus auch in den Köpfen der radikalen Linken anzukommen. Damals brach man bei entsprechender politischer Gesinnung, wenn man nicht ganz so radikal drauf war und Menschen ermordeten, mindestens Sterne ab und hängte sie sich stolz an die Jeansjacke. Das änderte aber nichts an der innovativen, technischen Ausgereiftheit eines wirklich guten Automobils.

Erhaben im Hafen

Erhaben im Hafen

Der mutige Schritt von Mercedes in die Zukunft setzte sich fort, auf die Straße gebracht im neu konstruierten Fahrwerk mit Doppelquerlenker-Vorderradaufhängung (aus dem Prototypen C 111 übernommen) und hinterer Diagonalpendelachse. Ab 1978 war der W116 das weltweit erste Fahrzeug mit einem voll elektronisch geregelten ABS von Bosch. Die Kombination aus technisch aufwändigem Fahrwerk mit den kraftvollen Motoren und den dicken 215er-Puschen verliehen dem schweren Wagen so brutal gute Fahreigenschaften, dass der bis dahin größte Mercedes aller Zeiten wiederum der offizielle Dienstwagen der Anti-Terror-Truppe GSG9 wurde. Womit sich der bundespolitisch historische Kreis wieder schließt, die Beschützer der Staatsgewalt machten Hochgeschwindigkeitsjagt auf die Gegner der Verfassung – in den gut motorisierten Statussymbolen des Kapitalismus. Weder Audi noch BMW oder die amerikanischen Limousinen konnten in diesem Jahrzehnt der S-Klasse auch nur ansatzweise das Wasser reichen.

Farben wie in den 70ern

Farben wie in den 70ern

Man kam im Jahr 1972, wenn man das wollte, selbstverständlich viel preiswerter voran. Um einfach nur von a nach b zu gelangen, genügte den meisten Sterblichen schon ein VW Käfer, den es für rund 5.700 Mark neu zu kaufen gab und der in jenem Jahr sein 15millionstes Jubiläum feierte. Der gut verdienende Lehrer von nebenan wollte es bequemer und griff zum großen Audi 100 LS, der mit 11.700 Mark die gehobene Mittelklasse prachtvoll repräsentierte – in einer Zeit, als Audi noch zu Unrecht der Muff der Spießigkeit anhaftete. Technisch überfliegende Raumschiffe wie der Audi V8 oder der A8 kreuzten noch weit entfernt zwischen den Sternen. Für insgesamt vier VW Käfer oder zwei Audis gab es einen dicken Daimler, das Grundmodell 280 S schlug mit 23.800 Mark zu Buche und grenzte sich allein damit schon weit vom Ottonormalverbraucher und seinem Portemonnaie ab. Das GRUNDmodell wohlgemerkt.

Saugen und Blasen, Einspritzen ist nicht.

Saugen und Blasen, Einspritzen ist nicht.

Das Topmodell 450 SEL 6.9 mit dem sagenhaften, mechanisch einspritzenden Big-Block-V8 lag Ende der 70er schon bei rund 70.000 Mark und kostete damit mehr als ein großzügiges Einfamilienhaus in einer guten Wohngegend. Hm. Das Einfamilienhaus wiederum kam nicht in acht Sekunden von 0 auf 100 km/h, aber man konnte nicht alles haben, auch wenn einige das wollten. Und auch wenn sich Einfamilienhäuser nur unter Zuhilfenahme von großzügiger Phantasie mit großen Limousinen vergleichen lassen und ein S-Klasse-Fahrer über die vier Volkswagen lächelte – tanken mussten sie alle. Und da tat der Oberklasse-Benz weh. W116 stand für Schmerz und Verbrauch pro 100 Kilometer, unter 16 Litern ging nichts, kommt da die Zahl her? 😉

Ein bisschen stolz darf er schon sein, der Kay.

Ein bisschen stolz darf er schon sein, der Kay.

Mercedes legte 1978 für das Exportgeschäft noch einen nach und verkaufte mit dem 300 SD den ersten Turbodieselmotor in einer Oberklasselimousine, der mit rund 14 Litern auf 100 Kilometern vor allem die Amerikaner begeisterte und den streng reglementierten Flottenverbrauch im Land der begrenzten Möglichkeiten ein bisschen nach unten drückte. Fast 80 Prozent der von Mercedes-Benz in den USA verkauften Autos waren Selbstzünder, und noch heute sieht man in regenarmen Ländern wie Kalifornien noch viele W116 herumcruisen. Denn dort konnte der Rost die bis 1976 völlig unkonservierten Limousinen nicht holen. 1980 kam dann der Nachfolger W126 und dominierte weiterhin das Oberklassesegment souverän.
Aber heute dominiert der W116 von Kay Paffrath. Auf dem brachliegenden Ufer, wo in ein paar Jahren große Häuser der Hafencity stehen werden, gibt der Mann seinem Saurier die Sporen und lässt es fein stauben.

Kurzer Drift durch den Sand, Heckschleuder...

Kurzer Drift durch den Sand, Heckschleuder…

... und dann Vollgas staubig an mir vorbei.

… und dann Vollgas staubig an mir vorbei.

Viel musste ja nicht getan werden, um die Technik so gesund zu bekommen wie sie es heute ist. Frischer weißer Lack rundet den überschaubaren Aufwand ab, und was heute in der Abendsonne vor der Baustelle der Hamburger Elbphilharmonie steht, ist die perfekte Zeitmaschine für diesen jungen Mann in den 40ern. Im Gegensatz zu Hamburgs Prestigebau sind die Kosten für das Projekt W116 bei ihm absolut im Rahmen geblieben, und vom Zeitraum von knapp einem Jahr bis zur Fertigstellung kann der Senat bei seinem vollverglasten Konzertwürfel in der Hafencity nur träumen.

Eine Menge Platz zum Wohnen. Überall.

Eine Menge Platz zum Wohnen. Überall.

Das Auto ist nicht perfekt, aber in einem ehrlich guten Zustand. Die Türen schmatzen trocken in die Zapfen, wie sie es nur bei einem Mercedes tun. Der Motor schnurrt seidenweich, und über das Viergang-Schaltgetriebe lassen sich die Gänge einlegen wie einst 1977. Fans schreiben, eine S-Klasse DARF nicht handgeschaltet sein und sie MUSS einen Achtzylinder haben. Na wenn die meinen. Es soll Menschen geben, denen diese Meinung total egal ist, heute haben sich hier zwei getroffen 🙂 Beim Gas geben scheint der Wagen vorne aufzusteigen – jeder, der in so einem Überauto schon einmal mitgefahren ist, wird sich daran erinnern, wie diese stolzen Schiffe als Kapitulation vor dem Drehmoment mit dem Hintern auf den Boden gedrückt wurden, wenn es einmal zügiger losgehen sollte. Bei mir war es in den 80ern der dunkelblaue 350 SE der Eltern meiner Freundin Silke. Und ja, ich erinnere mich an den Klang, die Beschleunigung und den Komfort auf dem blauen Plüsch. Auch wenn ich nicht mehr weiß, welchen Film wir damals im Kino gesehen haben.

Mach fertig. Benz ist klar, Philharmonie kommt noch.

Mach fertig. Benz ist klar, Philharmonie kommt noch.

Der W116 hat mehr als 40 Jahre nach seinem Debüt nichts von seiner Erhabenheit eingebüßt und gleitet fast geräuschlos durch die neue Welt, die Kay Paffraths Vater leider nicht mehr erleben durfte. Aber seine Mutter lädt er nach der Zulassung des Autos mit dem gleichen Nummernschild wie damals zu einer ausgiebigen Rundfahrt ein. Die beiden schwelgen die ganze Fahrt lang in Erinnerungen an die Zeiten damals, warum auch nicht? Der weiße Mercedes ist in der ganzen Familie heute gern gesehen und animiert zum Innehalten und Nachdenken. Kay lebt uns vor, wie Träume in Erfüllung gehen können. Und vielleicht ist irgendwann ja auch die Elbphilharmonie fertig.

Sandmann

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Über Sandmann

Die Zeit ist zu knapp für langweilige Autos, Abende vor dem Fernseher oder schlechten Wein. Ich pendel zwischen Liebe, Leben und Autos und komme nicht zur Ruhe. Aber ich arbeite daran.

13 Antworten zu Die weiße Galeere

  1. Pingback:Am 20. Mai 2016 gefunden … | wABss

  2. Daemonarch sagt:

    Schönes Ding!

    Wir hatten auch mal einen Vergaser-280er… In Senf-kack-Gelb/braun… Leider nicht lange.

    Nach einem halben Jahr wurde der meinem Vater vor der Kneipe weggeklaut (böse Zungen behaupteten lange, wegen dem astronomischen Spritverbrauch nicht unwillkommen)…

    Dennoch, das war schon ein beeindruckendes Auto, auch wenn ich mich daran nicht aktiv erinnern kann.

    • Sandmann sagt:

      Ay daemonarch,

      oha. Wo der heute wohl unterwegs sein wird…? 😉
      Auch die „Galeere“, der angesprochene 350 der Eltern meiner Freundin, hat heftig getrunken.
      Aber jetzt ertappe ich mich hier und da, dass ich nach Preisen im Netz gucke. Halbherzig, denn ich habe gerade definitiv andere Baustellen, aber trotzdem…… 🙂 So schöne Karren. *seufz* Aber man kann nicht alles haben.

      Sandmann

  3. pico sagt:

    Edles Mobil.
    Sehr cool im Film „Lost Highway“ von David lynch :D:D

  4. Will Sagen sagt:

    Mein Onkel hatte in den 70ern einen knallroten 450 SEL.
    Das war was für uns Kinder!

    (Und meine Tante einen Oettinger Golf 1 GTI, aber darum geht es hier ja nicht.)

    • Sandmann sagt:

      Du hattest coole Onkels und Tanten, Will 🙂

      Obwohl…. Einer meiner Onkel hatte auch einen Renault Fuego, ich glaube der war auch cool. Und immer kaputt.
      Warte mal, ich hab den grad gegoogelt. Nein, das war kein Fuego. Der war irgendwie noch schnittiger. Aber auch kein Alpine. Was war das wohl…???

      Sandmann

  5. Uli sagt:

    Schönes Ding, aber die erste Oberklasselimousine, die zum Auto des Jahres gekürt wurde, dass war 1968 der NSU Ro 80.

  6. Kay sagt:

    Der „Dicke“ macht immer noch sehr viel Spaß, eine wundervolle Zeitmaschine in dieser arbeitsreichen hektischen Zeit. Vielen Dank Jens

    • Sandmann sagt:

      Ay Kay!

      Da ist er ja, der Besitzer, dessen Bruder ich mal einen Benz abgekauft habe 🙂 Das freut mich sehr, dass du noch immer Spaß an dem Schiff hast, und ich hoffe das wird auch so bleiben.
      Freu mich mal wieder auf eine Currywurst an der Oldtimertanke, wenn deine Zeit es erlaubt 🙂

      Sandmann

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