Waldgeister

Liegt da einfach so rum.

Verlassenes macht mich traurig und nachdenklich. Verlassene Häuser, verlassene Menschen oder verlassene Autos. Hinter allem steckt eine Geschichte, selten alltäglich, manchmal tragisch, meistens wegen der oberflächlichen Betrachtung unergründlich. Lebewesen oder Gegenstände in einem Zustand, in dem sie so nicht sein sollten. Oder an einem Ort, an dem man sie nicht erwartet hat. Alles auf dieser Welt wurde irgendwann einmal geliebt, gekauft, genutzt. Diese Gedanken drehen in meinem Kopf ein paar Runden und vermischen sich zu wirrem Zeugs, während ich in meinem eben gerade geparkten Auto sitze und in den tiefen, finnischen Wald blicke. Ganz weit hinten, jenseits alles Straßen, sehe ich die Umrisse eines verlassenen, alten Autos. Ich muss da glaube ich mal hinstapfen.

Irgendwie entwickelt man mit der Zeit einen Blick dafür.

Nur aus dem Augenwinkel

Habt ihr einen Kaminofen? In dem Moment, wo man begriffen hat, dass sich mit Holz aus dem Wald die Bude nicht nur wärmen, sondern auch gemütlich machen lässt fährt man tagein tagaus mit einem „Holz-Blick“ durch die Gegend. Wo liegt was? Kann ich das kaufen? Was mag es kosten? Gehört der Stapel da jemandem?
So ähnlich scheint das mit den sogenannten Lost Places zu sein. Ich habe in diesem Jahr so viel über den Autofriedhof in Bästnas gelesen, dass ich kaum noch durch einen Wald fahren kann, ohne ihn terminatorgleich nach eingewachsenen Fahrzeugen zu scannen. Nach Überbleibseln einer Industrienation. Meistens finde ich dann nur wieder Holz. Aber heute, ein paar Kilometer vor unserem einsamen, kleinen Häuschen an einem finnischen See, entdecke ich im Augenwinkel ein paar schon lange erloschene Scheinwerfer. Ich habe bis zum Abendessen noch ein bisschen Zeit, also ziehe ich die langärmelige Jacke gegen die Mücken über, reibe mir den Hals, das Gesicht und die Hände nicht etwa mit Sonnenmilch, sondern mit Anti-Mück ein, nehme mein Handy und meine Kamera und stakse ein bisschen aufgeregt kreuz und quer durch die Bäume und die beerenreiche finnische Vegetation.

Wie Lara Croft durch den Dschungel

Falls ihr euch fragt, warum ich so ein Mücken-Gewese veranstalte… In diesem Jahr sind die kleinen Schwirrer bei uns am See zwar nicht so klischeehaft oft vertreten wie sonst (es ist einfach zu kalt, was auch nicht so geil ist), aber im Schutz des Waldes lauern sie zu Millionen, wenn nicht gar zu Milliarden. Du trittst auf weiches Gras und Kiefernzapfen, und mit jedem Schritt sirrt eine kleine Wolke von hunderten gieriger Flugstachel hoch, die meiner Sprache nicht mächtig sind und nur eins wollen: Mein Blut! Aber das Sprüh-Zeugs scheint was zu taugen, die meisten insektoiden Feinde drehen nach dem Kontakt mit meinem Hals schreiend und spuckend ab, einige werden ohnmächtig und gehen wie ein abgeschossener B 52 Bomber zu Boden und die ganz cleveren kehren schon vorher um und suchen sich lieber eine streunende Katze, die sie komplett fressen können. Hier draußen herrscht Krieg. Insekten gegen den Homo Sapiens. Ich werde in den nächsten zwei Wochen allerdings auch keinen menschlichen Körperkontakt zu erwarten haben, so fies riecht das Zeug auf meinem Hals. Aber ich werde wenigstens nicht gestochen. Theoretisch. Ups. Stacheldraht.

Ups. Jemand war mal hier.

Ich weiß nicht genau, was ich seltsamer finde. Ein Auto, was ohne einen nachvollziehbaren Weg mitten in einem Wald vor sich hin gammelt oder ein paar Meter Stacheldraht, die hier gegen-wen-auch-immer aufgespannt sind. Seit wann wohl? Ich krabbel drunter durch, sacke ziemlich tief in lockeren Waldboden ein und finde die Idee, hier nur mit Chucks reinzulaufen, gerade ein bisschen blauäugig. Sssiiiiiiiiiirrrr. Was machen Mücken eigentlich den ganzen Tag? Die können hier doch nicht rumsitzen und so lange warten, bis jemand kommt? Hier war seit Jahrzehnten niemand mehr! Siiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiihhhhiiiiiii Nervig. Mücken fliegen nur mit einer Geschwindigkeit von rund 2 km/h. Es sind sozusagen Vampir-Zombies. Das macht sie in der schieren menge allerdings auch nicht erträglicher.
Beim Näherkommen entpuppen sich die erloschenen Scheinwerfer als eine kantige Limousine mit zwei Türen. Ford? Hm. Opel? Nein. Irgend ein Lizenzbau aus den frühen 70ern, vielleicht finde ich ja Hinweise irgendwo?

Quasi ausgeschlachtet.

Was mag die Geschichte dieses verlassenen Autos sein? Räder sind keine mehr dran, der Motor fehlt auch. Eine zeitlang war es auf dem Land üblich, seine nicht mehr benötigten Autos im Wald zu entsorgen. Davon profitieren heute die Lost Places Fotografen und die Schatzsucher, die irgendwo in den Bergen eingebuddelte T1 Bullis im Endstadium bergen, sie um die Fahrgestellnummer herum neu aufbauen und dann sechsstellige Beträge dafür aufrufen. Meine erste Blechleiche fand ich im Urlaub mit meinen Eltern im Schwarzwald, um 1978 rum. Davon gibt es auch noch ein Foto. In dem Wald bei Uelzen, wo meine Oma immer Blaubeeren pflückte, stand sogar eine echte Kutsche! Die habe ich später aber nie wieder gefunden. Bei meinem Papa in Niedersachsen lag lange ein Käfer im Wald, der immer platter wurde und irgendwann zwischen damals und heute von einem übereifrigen Förster entsorgt wurde. Und der hier?

Jahrzehnte der Verwesung

Inzwischen weiß ich, dass es ein zweitüriger Ford Cortina MKII ist, zwischen 1966 und 1970 gebaut. Quasi der englische Vorgänger meines Knudsens. Also nichts wertvolles, nichts seltenes, einfach nur ein Auto im Wald, was noch älter ist als ich und dem (das freut mich irgendwie) der Verfall noch deutlicher anzusehen ist als mir 😉
Diese Mücken! Wie heißen Mücken in Finnland? Haben sie Namen? Die hier auf meinem Unterarm sieht aus wie eine Eevi. Vor meinen Augen siiiirren Pihla und Venla und auf Höhe meines rechten Ohres diskutieren Siiri, Hilla und Kerttu über den besten Moment des Angriffs. Ist es möglich, in einem finnischen Wald zu überleben? Nicht für alte Ford Cortinas, wie mir scheint. Der Wagen ist inzwischen so tief eingewachsen, dass sich die Türen nicht mehr öffnen lassen. Drinnen liegt allerhand Zeugs, da hat jemand wohl auch noch seinen Müll mit entsorgt. Durch das Dach ist eine massive Stahlkette gelegt worden. Ah. Vielleicht hat man die Leiche hier mit einem Traktor hinbugsiert?

Ein Haufen Verwesung

Schaden tut der alte Brite niemandem mehr. Alles, was irgendwann einmal hätte ölen können ist entweder schon lange ausgebaut oder inzwischen so trocken, dass es staubt. Vielmehr bietet das Auto diversen Krabblern und Vögeln ein komFordtables Zuhause, Nestmaterial liegt überall rum, Spinnen weben emsig ihre Netze und eine Ameisenstraße wandert im Gleichschritt mitten durch den Motorraum. Mücken brüten ja eher im Wasser. Ssssiiiiiiiiirrrrrr iiiiiiiii. Bah. Ich glaube, die ersten vier Kamikazewellen, angeführt von den Heldinnen Minea, Elli, Aada und Isla, haben das Spray aufopfernd von meiner Haut genascht und liegen jetzt als Märtyrer tot auf dem Waldboden rum. Das bedeutet aber, dass die Viermilliarden anderen Mücken, die sicher alle im Schleichflug auf dem Weg hier her sind, jetzt bald freie Bahn haben. Ich sollte darüber nachdenken, mich langsam einmal aus dem Staub zu machen.

So tief ist es gesunken

Trotzdem sich eine sechsstellige Anzahl saugender sirrender Parasiten in meiner direkten Umlaufbahn befindet kann ich mich nicht ganz leicht lösen. Dieses Auto liegt hier vermutlich schon viele Jahrzehnte, Sommer wie Winter, Tag wie Nacht. Es gibt keinen Weg hier hin, und die umstehenden Bäume lassen auch nicht erkennen, aus welcher Richtung der Cortina einst kam. Wahrscheinlich war das damals eine Wiese mit Kühen. Deshalb auch der Stacheldraht 🙂 Hm. Sssssiiiiiiiiiiii. Mücken können das dreifache ihres Körpergewichts an Blut saugen! Rülps.
Die Instrumente sind noch da. Ich checke schnell mal, wie hoch die bei ebay gehandelt werden. In Finnland habt ihr überall Netz. Wirklich überall. Während Deutschland es nicht einmal hinbekommt, die Großstädte flächendeckend zu bedienen, hat in Finnland ein Handy auch noch in der entlegensten Ecke eines großen Waldes Vollausschlag. Geht doch. Muss man nur wollen.
69 Euro sofort kaufen. Hm. Nö. Bis die beiden runden Dinger ausgebaut sind, haben mich die Mücken komplett aufgefressen. Außerdem will ich nicht durch die nicht mehr vorhandene Scheibe in den Müllhaufen da reinklettern. Ich hab ja nur Chucks an…

Die Armaturen sind noch drin.

Zu dem allgegenwärtigen sssiiiiiiiiiiiiiiiihhhh gesellen sich jetzt auch bbbrrrrrrrrrrrrrrhhhhh dazu. Dicke Bremsen. Also nicht ATE oder Febi, sondern die fliegenden. Jetzt wird’s ernst. Wenn die dich erwischen, wächst dir an der Stelle ein zweiter Kopf, der sich anfühlt wie ein Kater nach 24 Stunden Schnaps saufen. Einmal noch schnell haubensitzen. Das mach ich doch so gern 😉 Und dieses Mal würde es mich wundern, wenn wieder jemand über Beulen im Blech oder Kratzer im Lack philosophiert. Obwohl… nein, streicht den letzten Satz. Inzwischen wundert mich absolut gar nichts mehr.
Außer dieses Auto. Ich wüsste gern, welche Geschichte hinter ihm schlummert. Aber hier ist weit und breit kein Mensch, den ich fragen kann. Und ich spreche die Sprache auch nicht. Das nächste Gehöft habe ich vor mehr als drei Kilometern passiert, hier ist tatsächlich niemand. Nur Mücken. Und Bremsen.

In 10 Jahren nochmal nachgucken.

Keine Bärenfalle hat meinen Fuß abgetrennt. Ich bin in keine Fallgrube gestürzt. Ich habe mir auch nicht die Beine beim Ausrutschen auf glatten Felsen gebrochen. Ich sitze wieder im Benz, habe tatsächlich nur schlappe vier Mückenstiche (auf dem Bauch… die kommen sicher von Lilja, Enni, Minea und Elsa) und fühle mich immer noch ein bisschen wie ein Schatzsucher. Na klar – das ist nur eine alte Karre im Wald. Es gibt epische Berichte von eingewachsenen Autos, ganzen Friedhöfen im Grün und vergessenen Lagerhallen voller alter Neuwagen. Ich finde den Cortina hier trotzdem angenehm eingewachsen und wollte ihn mit euch teilen. Vielleicht gerade, weil es eben kein Bugatti oder 300 SL ist, sondern ein treuer Begleiter einer kleinen Familie in den 60ern, der irgendwann nicht mehr gebraucht wurde. Also kam er in den Wald. Und wurde vergessen. Er war damals einfach nicht geil genug, um behalten oder eingelagert zu werden. Das Schicksal so vieler Autos der 80er und 90er. Geisterhaft. Und ein bisschen traurig.
Habt ihr auch schon einmal ein Auto im Wald gefunden? Erzählt es mir!

Luemme sinut pian.
Sandmann

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Über Sandmann

Die Zeit ist zu knapp für langweilige Autos, Abende vor dem Fernseher oder schlechten Wein. Ich pendel zwischen Liebe, Leben und Autos und komme nicht zur Ruhe. Aber ich arbeite daran.

10 Antworten zu Waldgeister

  1. Hi Sandmann,
    die Cortinas gab´s ja auch mit Lotus Motor. Originale waren immer creme weiß mit grünem Streifen, der nach hinten zum Keil wurde. Nach weiß sieht dein Mückenschlößchen ja schon noch aus, und der Motor fehlt…
    Uieh, uieh…da lauert die ganz große Story vom verunglückten Rallyefahrzeug eines finnischen Unbekannten, der hier trainierte und dabiei verunglückte, und deswegen niemals berühmt geworden ist. Oder es war einer jener bekannten finnischen Helden, die DOCH berühmt geworden sind… 😉
    LG, Dirk

    • Sandmann sagt:

      Ay Dirk,

      hm. Jetzt machst du mich nachdenklich 🙂 Also da verunglückt ist schon mal niemand, der Wagen liegt locker 300 Meter von der nächsten Straße weg. Und die ist auch nur eine Schotterpiste. Vielleicht hat der Kahn auch einen ganz normalen Motor gehabt, der gespendet wurde. Aber das mit dem Lotus ist natürlich irgendwie romantischer 🙂
      Sandmann

  2. Seppo Lankila sagt:

    Hallo aus Finnland,
    Ein neuer leser des Blogs meldet sich jetzt ! Zwar habe ich seit ein paar Wochen schon etliche Geschichte gelesen, die wirklich interessant (und natürlich sehr amüsant) waren; Danke sehr dafür !
    Freue mich schon auf die nächsten Stories…Wir sind übrigens eine Familie von vier Personen, lieben alte Mercedes-Benz Fahrzeuge und (auto)reisen sehr gern Europaweit (ich besitze einen W 126 300SE ’90 mit 664 000 km, täglich im Einsatz Sommer wie Winter, meine Frau fährt W 140 S320 ’95, 406 000 km, auch im Alltag).
    Liebe Grüße aus Oulu,
    Seppo

    • Sandmann sagt:

      Ay Seppo,
      ein Leser aus Finnland!!! Wie schön. Warum kannst du so gut Deutsch? Oder hast du das mit google übersetzt? 😉
      Eure Fahrzeuge sind klasse. An den W 140 trau ich mich nicht ran, aber bald steht bei mir auch ein W 126 300 SE, dann können wir uns mal austauschen. Der hat allerdings noch nicht soooo viele Kilometer gelaufen wie deiner 😀 Großartig.

      Viele liebe Grüße aus dem Norden von Deutschland!
      Sandmann

  3. Seppo Lankila sagt:

    Tervehdys Saksaan !
    Deutsch habe ich in der Schule damals gelernt (also irgendwann im 1980er..), und einige Jahre her es wiederbelebt wegen Mercedes-Enthusiasmus und Reisen. Das Schreiben und Lesen schaffe ich allerdings besser als das Sprechen…
    Es freut mich dass du so gut entscheiden hast ! Im w126-forum.de wirst du sicher geholfen wenn nötig (auch ich habe dort kürze Reiseberichte geschrieben – mein Benutzername ist Seppo300SE) und http://www.w126-wiki.de könnte auch nützlich werden (falls nicht schon bewusst). Natürlich werde ich mit großem Intresse deine neue Abenteuer mit dem W 126 folgen, und helfe dir selbstverständlich wo ich nur kann. Bis bald & schönes Wochenende !
    Seppo

    • Sandmann sagt:

      Ay Seppo,

      vielen Dank für dein Hilfsangebot. Ich hab grad meine Bestätigung bekommen, dass ich im 126er Forum aufgenommen wurde. Dann werde ich mich die nächsten Tage da mal reinlesen.
      Am Dienstag holen wir den Wagen ab. Spannend. Ich werde berichten.
      Wir lesen uns definitiv wieder 🙂 Komm gut in die neue Woche!
      Sandmann

  4. thorsten sagt:

    W126? Wow. Endlich mal wieder ein ordentlicher Daily bei dir. Der 300er ist ein guter Kompromiss zwischen Saufen und Leistung, viel besser als die 280er zuvor. Kann bei ordentlicher Wartung richtig lange leben.
    Ich bin beim Daily grad aufgestiegen vom Caddy SDI zum GM-Saab 9-5 Kombi, den keiner will. 3,0tid…
    Ich weiss, worauf ich mich einlasse. Ich hab ihn schon beschraubt.
    Quasi-Geschenk meines Chefs, der mich gerade am WE einen 88er 911 Targa hat testen lassen. Da konnte ich nicht nein sagen. Der nicht vollgasfeste Diesel hat auch erst 120t runter.

    Der Cortina im Wald…
    In jungen Jahren hab ich mal in Waldgrundstücken einer Baumschule, mit deren Inhabers Sohn ich zur Schule gegangen bin, in ausgemusterten T1 und T2 rumstöbern und abschrauben dürfen. Die wurden da damals (70/80er) einfach so abgestellt, weil sich noch keiner wirklich dafür interessiert hat. Ich sollte bei meiner nächsten Visite im Norden da mal nachsehen…

    • Sandmann sagt:

      Ay Thorsten,
      na nach einem Caddy ist ein Saab 9-5 ja tatsächlich ein Aufstieg. Der ist wenigstens… speziell. Ich finde den nicht sonderlich interessant, aber er mag ein gutes Auto sein.
      Ob die abgestellten Bullis da noch sind, solltest du tatsächlich mal checken. Ich glaube nicht, im neuen Jahrtausend ist viel aufgeräumt worden in den Wäldern. Aber wer weiß? Und wenn du noch T1 findest, kannst du ja richtig reich werden 😉
      Welche grobe Ecke im Norden ist das denn? Dann komm ich mit und mach Fotos 🙂
      Sandmann

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