Das simulierte Leben

Ob wohl noch irgendwas real ist?

Fliegen und tauchen

Fliegen und tauchen

Bis vor Kurzem war meine Welt noch greifbar. Ich fahre in einem Auto durch die Straßen, spreche mit Menschen, esse Pizza und trinke Cola. Da waren einige Dinge. die konnte ich mir nicht leisten, weder monetär noch zeitlich. Zum Beispiel als ausgebildeter Pilot selbst von Kiel nach Hamburg zu fliegen oder eine elegante Concorde unter der Golden Gate Bridge durchtauchen zu lassen. Tauchen. Darf es auch noch etwas tiefer sein? Mit einem kleinen Tauchboot zum Wrack der Titanic hinunter, zu einer der größten Mythen meiner Kindheit, macht im echten Leben ebenfalls wenig Sinn. Nun, dank der immer besseren Computerleistung gibt es seit langem für solche Wünsche Simulatoren, die mich für einen mehr oder weniger kleinen Moment in diese Welten entführen. Alles ist gut. Später kam Google Streetview. Plötzlich gibt es Fleisch und Käse, die nur noch so aussehen. Und heute lässt sich alles simulieren. Alles. Wetten?

Schwertransport und SIMS, der Klassiker

Schwertransport und SIMS, der Klassiker

Seit in jedem zweiten Kinderzimmer PCs stehen, von denen das Amerikanische Verteidigungsministerium vor 10 Jahren nur träumen konnte, sind der Kreativität der gut verdienenden Programmierer und Werbestrategen keine Grenzen mehr gesetzt. Die SIMS als Referenz aller Lebenssimulationen ist für meine Töchter inzwischen ein valider Ersatz für den Legokasten und die Puppenstube. Hier können sie endlich die Häuser bauen, die Papa nicht bezahlen kann. Die Parties planen, die Mama nie erlauben würde. Kreativ, abwechslungsreich – und wenn das Geld einmal alle ist hilft der kontenfüllende Cheat „Motherload„. Das ist so fern vom richtigen Leben, dass es einfach Spaß macht. Okay. Und was mache ich selbst nun mit einem Schwertransport-Simulator? Ist der für den Heimtrucker, der schon immer mal einen Tanklastzug von Fulda nach Bremen fahren wollte? Das klingt ja sagenhaft spektakulär.

Autofahren oder tanken?

Autofahren oder tanken?

Hey, bleiben wir doch gleich bei den Automobilen. Ich habe vom Schwertransport-Simulator die Nase voll und stürze ich mich lieber gleich in den Tankwagen-Simulator 2011. Nervenaufreibende Kurvenfahrten wegen munter schwappender Ladung sind garantiert. Ich rieche förmlich mein verschwitztes Muskelshirt über meiner Bierpocke, während ich männlich in meine Kabine pupse. Hinter dem Vorhang ist meine Koje abgetrennt, aber bevor ich mich da reinkuschel und von derben Bräuten träume muss ich noch die Frachtpapiere durchgehen. Denn morgen geht es auf der Autobahn wieder 400 Kilometer ohne Tachoscheibe geradeaus. Schockt bestimmt mehr als jeder Action Film! Wem das zu groß ist, der kann ja auch den einfachen Fahr-Simulator 2009 nehmen, den gibt es gerade besonders günstig. Ich kenn‘ das noch, als ich 14 war wollte ich auch immer Autoscooter fahren. Seit ich einen Führerschein habe ist dieser Wunsch irgendwie verflogen, aber so ein Fahr-Simulator ist doch gleich eine ganz andere Nummer. Ich muss kein Eis mehr kratzen. Geil!

Müllabfuhr und Lieferwagen

Müllabfuhr und Lieferwagen

Ach, das ist Ihnen jetzt schon zu viel Fernfahrerromantik? Die Zugmaschinen machen Ihnen allein ob der brachialen Größe Angst? Mir auch. Sie müssen doch keine 30 Tonnen steuern, warum nicht mit einem kleinen 7,5-Tonner im Lieferwagen-Simulator durch Bottrop zirkeln? Virtuelle Umzugskartons stapeln, Gemüsekisten vom Großmarkt holen oder lieber gleich afrikanische Einwanderer nach Amsterdam schleusen? Kein Problem, und wenn Sie Ihren Führerschein verloren haben – den PC stört es nicht. Mein Problem ist ja immer, dass meine Ladung verdirbt, wenn ich mir zwischendurch eine reale Pizza mit Analogschinken bestelle oder ein Bier aus dem Keller hole. Mist. Zu lange in der virtuellen Sonne gestanden. Umgehend schwenke ich auf den Müllabfuhr-Simulator um und entsorge kurzerhand das malade Stückgut, außerdem die Mülltonnen der gesamten Nachbarschaft und den Sperrmüll aus dem Reichenviertel oben auf dem Berg. Was die alles wegschmeißen! Nicht zu fassen. So ein Tag als Müllkutscher ist schon sehr spannend. Ich freu mich auf das Update Italien 2.0, das verspricht weitere Müllberge!

Oldtimer und Angeln

Oldtimer und Angeln

Irgendwo im Hintergrund höre ich wie durch Watte meine Tochter nörgeln, dass sie jetzt mal wieder SIMS spielen will. Und dass sie Hunger habe. Ich bitte sie, mir Ihre Anfragen per SMS zu schicken, dann würde ich mich zu gegebener Zeit darum kümmern. Denn jetzt gehe es gerade nicht, ich habe endlich meinen Oldtimer-Simulator gefunden!!! Klasse. Die Schnauferl lenken sich genau so scheiße wie die Autos im Fahr-Simulator 2009 und die Tanklaster und Schwertransporter, ich muss mich gar nicht umgewöhnen. Die angenehm einfallslose Stadt um mich herum gewährt mir volle Konzentration auf das Cockpit, und wenn ich meine Fantasie anstrenge kann ich das Leder und das Holz riechen. Oldtimer sind etwas ganz besonderes. Gegen Abend angel ich meiner Tochter mit Petri Heil 4 noch eine Forelle. Ich kann nicht angeln, aber in der Simulation bin ich der Held. Nach nur zwei Stunden entspanntem, stumpfem Glotzen auf einen virtuellen See (in Kanada!) beißt einer an. Was für ein erhabener Moment!!! Meine Tochter mag keinen Fisch. Muss sie ja auch nicht.

Jagen und Polizei

Jagen und Polizei

Irgendwie ist Angeln ja auch doof, da muss ich mir nichts vormachen. Gut, dass ich nicht wirklich am See gesessen habe, viel zu kalt und was soll ich denn in Kanada? Da laufe ich doch lieber weitere Stunden durch die Wälder und das Dickicht von Jagen 2011, irgendwo in Norwegen, um am Ende einer langen pixeligen Naturerfahrung einem kleinen überraschten Reh gegenüber zu stehen, dem ich geschickt ein Projektil zwischen die Augen sende. Ganz ohne Jagtschein. Das wollte ich schon immer mal, und wenn mich doch das schlechte Gewissen plagt nehme ich mich anschließend selbst mit dem Polizei-Simulator fest. Im Hintergrund lasse ich parallel Alarm für Cobra 11 laufen und schiebe eine CD von AC/DC in den Wechsler, das peitscht die Stimmung. Endlich, ja ENDLICH fahre ich mit Höchstgeschwindigkeit und Blaulicht durch die Straßen, hinterlasse Explosionen und plattgefahrene Passanten. Alles im Dienst der Guten Sache. Das Leben ist schön.

Wildes Leben oder nur Zoo

Wildes Leben oder nur Zoo

Während die letzten überlebenden Verbrecher brennend am Straßenrand verenden, schreibe ich meiner Tochter eine neue SMS, sie solle einmal runter kommen. Diesen Farm-Simulator muss sie einfach sehen, das ist eine super Abwechslung nach den langen Stunden am See und beim Jagen. Kühe und Schweine. Eine Scheune. Heu. Saaagenhaft! Oder lieber gleich die World of Zoo? Auch das finde ich altersgerecht, und sie mag doch so gern wilde Tiere… Der kleine freche Tiger mit den großen Augen bittet mich gerade, ihm einen Namen zu geben, als ich eine SMS zurück bekomme. Meine Tochter ist beim Nachbarn drüben, weil es da etwas zu essen gibt. Findiges kleines Ding. Irgendwie schon sehr erwachsen. Ich bin so stolz, sie weiß sich echt zu helfen!

Garten und Baumschinen

Garten und Baumschinen

Das dauert da drüben erfahrungsgemäß länger, die unterhalten sich gar oder spielen irgendwelche bekloppten Gesellschaftsspiele. Da kann ich mich getrost den echten Männeraufgaben widmen und begebe mich mit dem Garten-Simulator 2010 auf eine abenteuerliche Rasenmäherpartie in der Kleingarten-Kolonie Kiel Wellsee. Das klingt leichter, als es ist, ich darf an den Rasenkanten nicht die kleinen Blümchen abfahren, und die Strauchtomaten müssen auch bald geerntet werden! Da es in meinem echten Garten bereits dunkel ist, schöpfe ich alle Vorteile so einer lebensnahen Simulation viel besser aus. Toll. Und wenn mir das zu langweilig wird, versetze ich mit dem Baumaschinen-Simulator 2011 gleich ganze Berge. Und Erdmassen. Von links nach rechts. Baggern fand ich schon immer großartig. Endlich ist es mir vergönnt. Oder baue ich schnell eine Straße? Vielleicht eine vierspurige A7? Dann stehe ich da nicht immer im Stau.

Baggern oder Bowlen

Baggern oder Bowlen

Ach guck, ich kann ja auch gleich den reinen Bagger nehmen, dann muss ich mich nicht zwischen der Walze und dem Rüttler entscheiden. In einer weiteren SMS teilt mir meine Tochter mit, dass sie bei einer Freundin übernachtet, es sei schon so spät. Eigentlich erlaube ich das ja nicht mitten in der Woche, aber na ja, die werden ja auch immer selbständiger. Oh. Schon 23.00 Uhr? Klasse, begebe ich mich mit dem Bowling-Simulator noch ins Nachtleben und schmachte der rollenden Kugel nach, wie sie unaufhaltsam in Richtung der Kegel läuft und diese dann krachend umschubbst. Also so eine gut umgesetzte Grafik habe ich zuletzt beim Minigolf-Simulator 2009 gesehen! Was alles möglich ist! Antworte ich meiner Tochter jetzt eigentlich noch? Ach nee, die hat ihr Handy bestimmt schon aus, ist ja spät geworden.

Schade, dass ich mein eigenes Game Over nicht mehr lesen kann.

Sandmann

Tagged , , , , , , , , , .Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Über Sandmann

Die Zeit ist zu knapp für langweilige Autos, Abende vor dem Fernseher oder schlechten Wein. Ich pendel zwischen Liebe, Leben und Autos und komme nicht zur Ruhe. Aber ich arbeite daran.

6 Antworten zu Das simulierte Leben

  1. calimero sagt:

    Unglaublich.
    Wer kauft solche Simulationen? Wer spielt solche Simulationen? Mal ehrlich… GARTENSIMULATOR? Das macht mich fertig. Haben die Leute denn keine Lust mehr, mal vor die Tür zu gehen!?
    Krass.
    Abel

    • Sandmann sagt:

      Ay Calimero,

      tja… wenn ich eine Frage auf diese Antwort hätte könnte ich dir auch sagen, wer zehntausende Euro in Spielcasinos versenkt, jeden Nachmittags Gerichts-Shows und andere scripted Reality im Fernsehen guckt und jeden Abend einer jeden Woche sein Heil vor dem PC oder dem Fernseher findet.

      Aber vielleicht haben am Wochenende ja irgendwelche Leser eine Antwort?

      Sandmann

      • flohdaniel sagt:

        Leider ist es für einige Kinder heutzutage wirklich so, das sie nicht vor die Tür gehen können. Weil es da keinen Garten oder sonst etwas gibt! Oder sie sind vom FastFood zu dick und dadurch krank um draußen zu spielen.

        Ich bin mit Lego&Co aufgewachsen, erst in der Pubertät hat mich die Welt des Computers erreicht. Gottseidank habe ich so wenigstens noch ein paar Jahre meine Hände und mein Auffassungsvermögen für materielle Dinge schulen können, so daß ich nicht für jede lose Schraube einen Handwerker kommen lassen muss.

        • Sandmann sagt:

          Klingt gut…
          Auch meine Kinder sind auf Bäumen rumgeklettert und runtergefallen, im Modder eingesackt und im Schnee stecken geblieben 🙂 Und bei eventuellen weiteren Nachkommen wird das auch wieder genau so sein.

          Ich habe gelesen, dass es heute Jugendliche gibt, die nicht in der Lage sind, rückwärts geradeaus zu gehen…? Versucht das mal und guckt, ob alles okay ist. Ich kann’s 😉

          Haptische Erfahrungen sind so wichtig. Die Welt da draußen ist so wunderschön, warum sollte man sie simulieren?

          Sandmann

  2. calimero sagt:

    Hahahaa Sandmann,
    ich bin heute durch Regale von Geiz istgeil gelaufen und habe zum ersten Mal die Artenvielfalt dieser Simulatoren entdeckt 🙂 Danke fürs Augen öffnen.
    Abel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ein bisschen Mathematik: *