Tief Luft holen: Continental Mark V. Da bebt der Boden schon, wenn ich es nur ausspreche. Der nordamerikanische Klotz aus den späten 70ern ist fast sechs Meter lang und füllt ganz gelassen sieben Liter Hubraum mit Benzin, kurz vor jeder Zündfolge. Bei diesen Dimensionen denken sogar stolze Eigenheimbesitzer über einen spontanen Einzug nach, dabei passen in das Coupé bequem nur zwei erwachsene Menschen rein. Die haben aber eine Menge Spaß mit ständigem ungläubigem Kopfschütteln – Spaß zumindest bis zur nächsten Kurve oder Tankstelle. Lassen Sie uns einen der letzten unfassbar überheblichen Full-Size-Dinosaurier ein paar Meilen reiten.
Der Tyrannosaurus Rex war ein wahrhaft großer Fleisch- und Aasfresser, stark und Ehrfurcht einflößend. Er stapfte durch die Wälder und fraß, was sich ihm in den Weg stellte. Keine Menschen, denn die gab es in der jüngsten Stufe der Oberkreide noch nicht. Aber hätte es sie gegeben – sie wären mächtig beeindruckt gewesen. Sie hätten sprichwörtlich mit offenen Mündern in der Kreide gestanden. Die Chance, aus dem Staunen nicht mehr heraus zu kommen, bewahrten sich die später kommenden Menschen bis 1966. Da zogen erste Exemplare des Continental Mark III ähnlich erhaben durch den urbanen Dschungel. Sie waren ungefähr so groß wie ein T-Rex und fraßen ähnliche Mengen wie er – allerdings in Form von kleinen Schalentieren und Muscheln, die zuvor jahrmillionenlang unter dem Druck der Gesteinsschichten verbrachten, dann als schwarze Brühe nach oben gepumpt und aufwändig zu etwas raffiniert wurden, was man anzünden kann: Superbenzin.
Wahnsinnknopf an: Die Namensgebung ist typisch amerikanisch und deswegen mehr als verwirrend: Die Continental Division war von 1955 bis 1960 eine eigenständige Ford-Konzerntochter und bot den Continental Mark V als hochwertiges Luxusfahrzeug an. Das Modell wurde von der Lincoln-Mercury-Division der Ford Motor Company gebaut, aber nicht als Lincoln Continental in den Annalen geführt, denn der Lincoln Continental lag seit 1961 unterhalb der Continental-Mark-Serie und hatte technisch mit ihr nichts zu tun. Als Hommage der damaligen Luxuskarossen trug er demnach nur die Modellbezeichnung Continental Mark V als Nachfolger der Mark-III und -IV-Modelle. Kapiert? Okay, Wahnsinnsknopf wieder aus.
Diese automobilen Dinos waren die Antwort der Ford Motor Company auf den gerade erfolgreich vorgestellten Cadillac Eldorado und wollten vor allem groß und luxuriös sein. Und groß. Und luxuriös. Vor allem aber groß. Naja, auch luxuriös. Allein die Motorhaube ist mit 1,80 Metern Länge nur geringfügig kürzer als ein kompletter Smart. Beide Fahrzeuge bieten zwei Personen einigermaßen Platz, jedes auf seine Weise. Nur die Insassen des Continental verspürten dabei diese Ehrfurcht, wie nur der T-Rex sie ausstrahlen konnte. Allein schon deshalb, weil die tiefe Erkenntnis von Raum und Größe ein paar Minuten braucht, bis sie sich in Hirn und Herz voll entfaltet.
Hirn: Du sitzt in einem unfassbar großen Pkw, vielleicht in dem größten, in dem du jemals gesessen hast. Wie kann es sein, dass du hier drin nur unwesentlich mehr Platz als im Smart hast? Ist das einer der Gründe, warum so etwas ausgestorben ist? Ist es? Ist es????? Hallo?
Herz: Erweck mal das Triebwerk zum Leben. Leg mit dem Hebel am Lenkrad andächtig die Fahrstufe ein und lass dieses geile lange Ding losgleiten. Und denk nicht so viel nach.
Der Riese rollt und setzt fossile Brennstoffe in kinetische Energie um. Man ist sich heute nicht ganz sicher, ob nun vor zig Millionen Jahren ein Meteorit einschlug, eine Eiszeit kam oder die großen Viecher einfach alles aufgefressen haben. Jedenfalls waren die Dinos plötzlich weg. Und was da gegen Ende der Kreidezeit passierte, wiederholte sich Anfang der 70er Jahre auf ähnliche Art und Weise: Die erste große Ölkrise. In Nordamerika, was nicht für seine ökonomischen Kleinwagen bekannt war, erlegten sich alle Hersteller Sparzwänge auf, weil plötzlich niemand mehr den Durst der dicken „Gas Guzzler“ akzeptierte: Dank OPEC verdoppelte sich der Preis für einen Liter Kraftstoff.
Nur Lincoln blieb cool. Weil sie es konnten. Wenn alle anderen ihre Motoren abspeckten und die Dimensionen ihrer Karossen schrumpfen ließen, wolle man erst recht demonstrieren, dass der Continental zur Oberklasse gehöre. Und so sollte der Mark V das einzige US-amerikanische Auto der späten 70er Jahre sein, das bei seiner Vorstellung noch größer als sein Vorgänger war. Diese Größe wurde ungeschminkt zur Schau gestellt. Expressiv. Gnadenlos überheblich. Kantige fast 5,9 Meter Länge und eine Breite von mehr als zwei Metern erweckten den Eindruck eines modernen Mastodons. Er passt in keine deutsche DIN Garage und hat mehr Grundfläche als die meisten Fleischtheken bei EDEKA.
Der Wagen hat fast keine Rundungen. Er beginnt vorn mit einem fetten, klappscheinwerfergeflankten Rolls-Royce-Style-Kühler und endet hinten, viel weiter hinten mit einem im Kofferraumdeckel angedeuteten, aber dort nicht vorhandenen Reserverad. Dazwischen findet der Betrachter, wenn er seinen Blick von ganz links nach ganz rechts schwenkt, sinnentleerte, aber mächtige Design-Kiemen hinter den Vorderrädern (die werden Louvers genannt). Und nur zwei Türen. So geil. Zwei Türen in einem sechs Meter langen Auto, jede wieder ungefähr so lang wie ein ganzer Smart. Wenn Einparken schon heavy ist, dann ist Aussteigen impossible. Dazu gibt es zur Beruhigung in den C-Säulen die kleinen, schon aus dem Vorgänger bekannten rundlichen Opera Windows. Genau so sinnfrei wie die Kiemen, aber irgendwie schön.
Innen umgibt einen (wenn man den Blick endlich von dieser Motorhaube abwenden kann) purer 70er-Jahre Luxus. Zumindest vorn ist reichlich Platz. Alles funktioniert elektrisch, und die sechsfach verstellbaren Plüsch-Fauteuils lassen mich versinken wie in der warmen Zunge des Apatosaurus. Ganz tief drinnen – allerdings kann von Bodenkontakt keine Rede sein. Es gibt einen Fond, aber dort sollte niemand längere Touren verbringen müssen, wenn ihm nicht vorher von einem Velociraptor die Beine geklaut wurden…
Beim Tritt aufs Gas knurrt der V8 zufrieden wie ein Stegosaurus nach dem Mittagessen. Zu hören ist ansonsten von den durstigen Kraftwerken im Alltagsbetrieb so gut wie nichts: Im Continental wurden rund 75 Kilo Dämmung verbaut, die den Wagen selbst unter Last gespenstisch leise halten.
Das Auto war und ist gewöhnungsbedürftig. Im Stadtverkehr drehe ich an der kinderleichten Servolenkung wie ein irrer Ritter an der Zugbrückenwinde bei einem drohenden Angriff der Warane. Aber die Gewöhnung geht auch heute noch schnell, viel schneller als bei jedem modernen Auto, wo ich mich erstmal durch die Doppelbelegung der 100 Mikroknöpfe und Touch Sensoren durcharbeiten muss. Trotz der verhältnismäßig wenigen PS tritt der Saurier kraftvoll und leise an und lässt sich, wenn auch ständig episch kurbelnd, kinderleicht durch den Alltagsverkehr lenken. Nur der norddeutsche Wind ist zu hören, wenn er an den Außenspiegeln und den Kanten der Karosserie zerrt. Und manchmal das mechanische Glöckchen, wenn der Tank wieder leer ist. Dabei möchte ich fahren, nur um des Fahrens willen, immer weiter, einfach weil es so entspannt ist und so viel Spaß macht. Kennt nicht jemand von Ihnen einen Mineralölkonzern persönlich…?
Der Blick des Reisenden liebkost andächtig die vor ihm liegende Schrankwand aus Instrumenten. Er fixiert die von Walnut Woodgrain umrahmte serienmäßige Uhr von Cartier, rutscht aber stets ab zu dem großen blinkenden LOW FUEL-Lämpchen unter der kleinen Tankanzeige. Tanken? Shit. Blinker rechts, und jetzt bloß auf die langen Überhänge der Karosserie achten, sonst rasiere ich die Zapfsäulen weg und merk das nicht mal. Auf der linken Flanke hinten befindet sich die Klappe, darunter lauert der Tankstutzen. Auf damit, rein mit dem Rüssel. Durch die Scheibe des Tankstellenshops grinst mich der Student hinter der Kasse dämlich an. Er wittert das Geschäft seines Lebens und überlegt, ob er seinem Chef auf den Tresen pinkeln, der Praktikantin einen Heiratsantrag machen und mit ihr und den Einnahmen durchbrennen soll.
Während das wertvolle Nass in die Kavernen rinnt, ist genug Zeit für eine kleine Motown-Besichtigung. Denn bei den V8-Motoren hat sich die Lincoln-Mercury-Division nicht lumpen lassen. Auch wenn die Scheichs gerade erst durch die politisch motivierte Reduzierung der Ölfördermengen ihren Einfluss demonstriert hatten, pflanzte man hier in Detroit weiterhin Motoren mit Hubräumen in den Dimensionen von Sauropoden unter die langen Hauben. Der bescheidene 6,6-Liter-Motor (402 cui) wurde über seinen Doppelvergaser in den drei Produktionsjahren von 179 PS auf 159 PS gedrosselt und erfüllte damit die Bedingungen der strengen Abgasgesetze Kaliforniens. Dort nicht, aber in allen anderen Bundesstaaten konnten die Käufer außerdem den guten alten 7,5 Liter-Motor bestellen, und das taten sie auch. Wenn schon einen zwei Tonnen schweren Dinosaurier vor der Tür, dann auch einen richtigen. Und der Sprit läuft und läuft.
Man zeigte damals gern, was man hatte. Und die wohlhabenden Tankwarte im Freundeskreis nahmen zu, den angegebenen Verbrauch von rund 19 Litern auf 100 Kilometern konnten zeitgenössische Tester regelmäßig dramatisch überbieten. Ich breche den Tankvorgang mal ab, ich habe heute noch anderes zu tun. Trotz oder wegen allem Oversizing: Das Konzept ging auf. Ford verkaufte im ersten Jahr des Continental Mark V mehr als 80.000 Stück, 1978 waren es noch 72.602 und 1979, auf dem Höhepunkt der zweiten großen Ölkrise, erwarben noch knapp 76.000 Menschen das Flaggschiff. Damit war der Continental Mark V nicht nur das größte, sondern auch das erfolgreichste Modell der Mark-Serie.
Gut dass der Mann am Schalter seinen Fantasien nicht nachgegeben hat. 42€, das muss reichen. Die Tanknadel bewegt sich fast gar nicht…
Ich will ihn gar nicht mehr zurückgeben. Leicht neigt sich diese lange Nase in jede Kurve und hebt sich majestätisch in den Himmel, wenn ich dem Saurier in die Wampe bzw. aufs Gas trete. Unspürbar schaltet die Automatik die Gänge durch. Träge cruisend, aber unaufhaltbar kraftvoll geht es voran. Ich darf nur niemals vergessen, dass ich die Dimensionen einer Oberklasse mit einem Wohnwagen hinten dran bewege. Also beim Abbiegen schön weit ausholen, an der Ampel nicht zu weit nach vorn rollen (die Motorhaube blockiert bereits den kompletten Fußgängerüberweg, wenn man selbst noch mehrere Meter vom Lichtsignal entfernt ist) und nicht zu sehr vom Plüsch und Luxus ablenken lassen. Dann geht‘s zügig nach vorn wie in einem Smart, nur geiler.
Und sogar das Einparken ist irgendwie möglich. Optisch einwandfrei, denn die Peilkanten der Karosserie sind zwar weit, weit weg aber noch immer gut zu sehen. Nervlich nicht immer ganz vorn, denn der Continental passt selbst in großzügige Parklücken schlicht nicht rein. Meiden Sie Parkhäuser und einfache Innenstadtparkplätze (die zwei Türen….. na ja man kann auch aus dem runtergelassenen Fenster rausklettern). Dann ist alles okay. Aber vielleicht kommt es eben manchmal doch auf die Größe an – zumindest für einige. So, wie man heute keine echten Dinosaurier mehr sieht, ist auch die Spezies Continental Mark V so gut wie ausgestorben. In Deutschland sowieso, aber auch im Land der unbegrenzten Motorhauben backen die Konzerne heute unspektakuläre Kleinwagen-Brötchen.
Doch ausgestorbene Spezies haben eine große Fangemeinde, das teilen sich die Saurier seit Jurassic Park mit den riesigen Gas-Guzzlern einer vergangenen Epoche. Mehr zur Schau gestellter Luxus wurde nie wieder in solchen Dimensionen aus Stahl gewalzt und auf vier Räder gestellt, und weil so viele gebaut und gekauft wurden, kann man sie noch immer erstaunlich preiswert bekommen. Für einen technisch gesunden Continental in vernünftigem Zustand legt der dimensionslose Interessent hierzulande weniger hin als für einen neuen Smart.
Und in den passen auch nur zwei Menschen rein.
Nicht dass wir uns falsch verstehen – ich habe nichts gegen einen Smart, und das hier war auch kein Vergleich der beiden Autos, maximal ein Vergleich zwischen einer Motorhaube und einem Kleinstwagen 😉 Aber der Smart bringt einen von a nach b. So ein Continental hingegen macht glücklich. Und ich meine, dass wir dieses Glück auskosten sollten, solange es noch geht. Oder?
Sandmann
Vielen Dank an:
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Zitat:
„Der nordamerikanische Klotz aus den späten 70ern ist fast sechs Meter lang und füllt ganz gelassen sieben Liter Hubraum mit Benzin, kurz vor jeder Zündfolge.“
Auch wenn es sich ganz sicher beim Fahren bzw. Tanken eines solchen Dampfers so anfühlen mag – die sieben Liter Hubraum müssen sich kurz vor jeder Zündfolge mit einem möglichst „stöchiometrischen“ Verbrennungsluftverhältnis zwischen Benzin und Sauerstoff füllen dürfen – sonst funktioniert’s einfach nicht!
El,
der ob der spitzfindigen Auslegung Deiner Worte hektisch mit den Augen zwinkert und spitzbübisch grinst 😀
… und dem zu amerikanischen Protzschiffen irgendwie einfach kein liebevoller persönlicher Bezug gelingen will.
Ay El,
ach, Luft brauchen die auch? Das erklärt, warum ich an der Ampel einen Dobermann angesaugt habe. Wir mussten den umständlich wieder aus dem Vergaser befreien….
😉
Ich WEISS ja, dass du keinen Bezug zu den alten Sauriern hast. Umso mehr freut es mich, dass du nicht schimpfst, sondern nur klugscheißt und mir was von Benzin-Luft-Gemischen erzählst 🙂 Damit kann ich gut leben.
Schönes Wochenende nach Drebber
Sandmann