Das Schweigen der Socken

Loslassen im Norden

Loslassen im Norden

Der Tag war lang, sehr, sehr lang. Ich glaube, ich habe über 3000 Wörter geschrieben und sechs Fotopostings getextet, währenddessen ich drei Liter Kaffee trank, drei luftige Weizenbrötchen inhalierte und einen großen Bogen um alles Gesunde, vor allem um Vitamine machte. Herrlich. Mit fehlt noch so was wie ein letzter Satz, und mir fehlt eine Chance, den Speicher im Kopf danach zu löschen. Runterkommen, abschalten, ich schlafe sonst echt schlecht. Grenen. Der sandige Zipfel im Norden von Skagen, Dänemark. Da, wo sich Nord- und Ostsee gute Nacht sagen. Zufällig bin ich in der Nähe, ich glaube da finden sich Lösungen.

Schreiben geht fast überall.

Das Textverarbeitungssystem ist immer dabei.

Das Textverarbeitungssystem ist immer dabei.

Die Erkenntnis ist nicht neu, und ich bin froh, dass ich Büro sitzen KANN, aber nicht im Büro sitzen MUSS. Der Schreiber zu sein hat bei allem Spaß am Beruf auch Nachteile. Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und habe eine Idee. Dann stehe ich auf, schreibe sie irgendwo nieder und kann dann nicht mehr einschlafen. Meistens finde ich den Zettel am nächsten Morgen nicht wieder. Manchmal fallen mir Überschriften unter der Dusche ein. Und ich vergesse sie wieder, bevor ich mich abgetrocknet habe und sie aufschreiben kann. Und dieser sich nach und nach eingeschlichene Blick auf die Welt mit dem ewigen Hintergedanken „wie kann ich das jetzt am besten fotografieren?“ ist auch nicht immer angenehm. Luxussorgen, oder? Stimmt. Aber doof ist das trotzdem.
Ich werfe die alte TRIUMPH Schreibmaschine in den Kofferraum des T-Modells, hole meine Pfeife, Tabak, Stopfer und Feuerzeug aus dem Häuschen und mache mich auf an die Spitze des Landes, den Sonnenuntergang über zwei Meeren genießen. Ohne Telefon. Einfach nur so.

Wohnen direkt am Meer?

Wohnen direkt am Meer?

Die Landzunge Grenen ist der nördlichste Punkt Dänemarks. Äh, fast, links von ihr ist noch ein Sandknubbel, der geografisch drei Meter nördlicher ist, aber egal. Auf der westlichen Seite brandet die Nordsee, auf der östlichen Seite dümpelt die Ostsee. Es ist ein magischer Ort. Natürlich auch, weil sich diese beiden Meere ganz oben wie auf einer Linie treffen und der Horizont hier über dem Wasser noch ein bisschen gerader ist als sowieso schon.
Hinter dem Parkplatz läuft man durch Bunkeranlagen und Heckenrosen, und falls den jemand kennt: Der Dichter und Maler Drachmann hat sich hier auf eigenen Wunsch begraben lassen. Verständlich. Am Wasser überwältigt einen das Licht. Das Licht ist in Skagen anders als über dem Rest von Dänemark, das hat vor 140 Jahren schon die Skagenmaler begeistert – nicht wenige Impressionisten haben sich hier von den warmen, klaren Farben inspirieren lassen. Oder begraben lassen. Friedhof? Auch wenn Sie das repetitiv finden könnten: Ich bin hier schon wieder ganz allein. Im Sommer tobt auf Grenen das Leben, ein Traktor mit einem langen Anhänger dahinter (der Sandworm) kippt im Halbstundentakt fußlahme Touristen in den Sand, die sich dann mit einem Fuß in jedes Meer stellen und sich fotografieren. Heute Abend nicht. Kein Sandworm, ich laufe selbst die zwei Kilometer (das hätte ich aber sowieso gemacht) und ich bin der einzige landgebundene Zweibeiner hier oben. Am Rand der Welt.

Wandern auf den Elementen

Wandern auf den Elementen

Die zahme Ostsee liegt genau wie vor vier Jahren wie ein Spiegel in der lauen Abendbrise. Von links kann ich hinter den Dünen ein monotones Rauschen hören, die Nordsee liegt eigentlich niemals wie ein Spiegel in der Abendbrise. Jedenfalls nicht wie ein intakter Spiegel, außer da guckt so eine Gesichtsbaracke wie Donald Trump rein, dann passt der Vergleich wieder. In der Nordsee ist immer ein wenig Neptun-Party, und deshalb ist das Treffen der Meere ja so eindrucksvoll. Ich habe vorhin im Auto noch einmal die Nachrichten gehört, weil ich manchmal beim Anblick derart entvölkerter Sehenswürdigkeiten Sorge habe, dass irgend etwas globales passiert ist. Irgend eine Katastrophe, welche die Leute zu Hause bleiben lässt. Germany’s next Top Model oder sowas. Aber nein, alles gut, soweit ich das zwischen den sprachimmanenten Kotzlauten und dem erstickungsähnlichen Gegurgel junger, dänischer Moderatoren heraushören kann. Anfang Juni will schlicht niemand einen sterbenden Leuchtturm (gestern) oder einen Sonnenuntergang ganz im Norden (heute) sehen. Muss ja auch nicht.
Hallo Nordsee. Hallo Ostsee. Da seid ihr ja.

Zwischen den Meeren

Zwischen den Meeren

Verzeihen Sie mir ab jetzt den Pathos. Der Sonnenuntergang über Grenen ist halt nicht so leicht wegzustecken. Zur Versöhnung gibt es am Ende heute auch noch ein verwackeltes Autobild, okay?
Hier stehe ich also so rum, zwischen Skagerrak und Kattegat, an der Nordspitze Jütlands. Der friedliche Schein trügt zumindest unter der Oberfläche, hier ist Baden verboten, die unberechenbaren Strömungen ziehen einen gern mal schwupps – rüber nach Götebeorg, und das hat anscheinend noch niemand überlebt. Baden will ich auch nicht, ‚bisschen früh im Jahr, dafür bin ich nicht hart genug. Aber mal mit den Füßen rein, das wär doch fein ♫ Also raus aus den Schuhen, raus aus den Ringelsocken und plitsch platsch mit einem Fuß in die Wellen und mit dem anderen in den Spiegel. Wie die Touristen. Ach warte mal, ich bin ja auch einer, wenn auch der einzige hier 🙂 So Freunde, Geigenmusik ein bisschen lauter drehen und das Licht dimmen, ich habe noch eine Pfeife zu rauchen.

Die warten hier mal brav.

Die warten hier mal brav.

In den letzten Minuten, bevor die Sonne im Wasser versinkt ist es unnatürlich still. Die Vögel im Strandhafer und den Büschen hören auf zu singen, als würden sie andächtig dem Moment huldigen. Die Möwen (für mich mehr Ratten als Vögel) schreien nicht mehr rum und haben sich ins Gras geduckt. Es ist nicht unheimlich, es ist wundervoll. Jetzt höre ich tatsächlich nur noch die Wellen. Wo ich meine Pfeife? Ah. Wissen Sie, ich rauche ja eigentlich nicht. Bäh Zigaretten, bäh. Ich paffe ab und zu einen Zigarillo, so eine kleine Blechbox reicht bei mir länger als einen Monat. Doch Pfeife… seit ich 20 Jahre alt bin, rauche ich zu besonderen Anlässen (oder wenn ich einmal eine Stunde Zeit habe) eine gute Pfeife. Tabak, der nach Vanille oder Kirschen riecht. Um fachgerecht eine Pfeife zu paffen braucht man Zeit und Muße, das geht nicht nebenbei. Ich habe heute Abend beides.

Am Rand der Welt. Am Rand der Ruhe.

Am Rand der Welt. Am Rand der Ruhe.

Und dann stehe ich einfach nur so da. Es soll Menschen in diesem Land geben, die haben noch nie einen Sonnenuntergang über der Nordsee gesehen. Für mich unbegreiflich. Schon als Teenager habe ich mit pubertierender Stimme und verstimmter Gitarre bei solchen Sonnenuntergängen am Strand von Sylt (mindestens) ein Herz gebrochen. Als diesen Abenden abschließend noch ein Meeresleuchten folgte, gehören sowohl eine Handvoll Lieder von Simon & Garfunkel als auch die Dämmerung über westlichem, salzigem Wasser für mich in das Traumland aus Hoffnung und Realität. Wenn Sie gerade nicht verstehen, wovon ich schreibe, weil Sie zu diesen nicht-Nordsee-Sonne-Menschen gehören – setzen Sie das auf Ihre Liste der Dinge, die Sie noch machen sollten, bevor Sie sterben. Ein Sonnenuntergang über dem Meer ist nicht kitschig, er ist nicht langweilig. Er ist sagenhaft. Der Sand wird immer dunkler und hüllt sich in Schatten. Der Horizont beginnt zu brennen, während das Wasser die Farbe von flüssigem Metall annimmt und das Licht des Himmels und der Sonne reflektiert. Man braucht nichts zu machen, es genügt, einfach nur zu schauen. Es ist jede einzelne Sekunde wert.
Puh.

Und dann ist sie weg.

Und dann ist sie weg.

Als der gelbe brennende Gasball zischend im Meer versunken ist, erheben sich alle Vögel wie auf Kommando, fliegen eine runde über die sandige Spitze und lassen sich im Landesinneren nieder. Spektakulär. Das Schauspiel hat sich auf meine Netzhaut und in meinen Kopf eingebrannt, und ich rekapituliere die Bilder den ganzen Weg zurück zum Parkplatz. Vor mir am Strand, an der Kante zum Wasser, sehe ich meine eigenen Fußspuren vom Hinweg, als ich noch Schuhe trug. Die charakteristischen Absätze sind gut von den anderen Spuren hier zu unterscheiden. Es klingt vielleicht albern, aber haben Sie einmal Ihre eigenen Fußspuren nach einem schönen Erlebnis wiedergefunden? Sie stammen aus einer Zeit VOR dem Ereignis, aber es sind Ihre eigenen. Ich finde, das ist ein ganz komisches Gefühl. Versuchen Sie es mal, auf einem sandigen Weg, den Sie später am Tag wieder zurück laufen. Seltsam. Das war ich. Ich selbst. Da war ich noch zwei Stunden weiter von meinem eigenen Tod entfernt als jetzt.
Warte mal. Absätze… Kurz bevor ich wieder beim Auto bin drehe ich noch einmal um, meine Schuhe und die Socken stehen noch da, wo sich Nord- und Ostsee treffen. Verdammt. Die hätten ja ruhig mal rufen können, als ich vom Licht beduselt davonflanierte. Aber egal, heute Abend habe ich Zeit. Das Pfeifchen qualmt noch immer und schmeckt von Minute zu Minute besser. Der Speicher im Kopf ist erfolgreich gelöscht. Aber nun kommen auch langsam die Mücken und stürzen sich auf das einzige Nahrungsmittel weit und breit: Mich. Schnell ins Auto.

Unscharf und eigentlich viel dunkler...

Unscharf und eigentlich viel dunkler…

Da haben Sie es, das in einem Autoblog letztendlich Absolution versprechende Autobild. Meine Kamera war noch auf automatische Belichtung eingestellt, deshalb hat sie aus dem Abend einen verwackelten Nachmittag gemacht 🙂 Die fiese, die. Ich fahre die 35 Minuten die Überlandstraße 40 über Skagen zurück in Richtung Frederikshavn, um dann kurz vorher links nach Bratten Strand abzubiegen. Das treue TomTom bringt mich nach Hause. Die kreative Schreibzeit ist schon wieder fast zu Ende, ich habe eine Menge gerissen, aber so ein Abend wie dieser war auch einmal nötig. Einfach nur da sein, einfach nur aufs Meer gucken. Ich brauche das, und ich werde mir diese Auszeiten immer wieder nehmen. Denn sie sind so wertvoll. Verstehen Sie das? Der letzte Satz für den Artikel ist mir auch eingefallen, noch bevor ich den Rückweg ein zweites Mal antreten durfte.
„Das Leben ist schön“.

Sandmann

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Über Sandmann

Die Zeit ist zu knapp für langweilige Autos, Abende vor dem Fernseher oder schlechten Wein. Ich pendel zwischen Liebe, Leben und Autos und komme nicht zur Ruhe. Aber ich arbeite daran.

7 Antworten zu Das Schweigen der Socken

  1. Pingback:Am 6. Juni 2016 gefunden … | wABss

  2. Snoopy sagt:

    In Vorupoer in Nordwestjütland. Wind gehört einfach dazu ! Das mach es bei Surfern sehr beliebt und wird daher auch Cold Hawaii genannt…

    • Sandmann sagt:

      Cold Hawaii 😀

      Ich sehe schon, ich kenne noch nicht viele Ecken in Dänemark. Aber zumindest an der Westküste sind sich die Plätze schon recht ähnlich, und alle sind irgendwie schön. Sogar in Henne wird ja reichlich gesurft.
      Mal schauen wohin es mich im Herbst verschlägt. Aber wer spricht denn vom Herbst. Jetzt kommt erst einmal der Sommer YAYYYYYY

      Sandmann

    • Sandmann sagt:

      AAAAAAAAWWWWWWWWWWWWW da ist er ja, der romantiske Sonneundergang jey.
      So ein paar Fischerboote im Sand runden das Panorama natürlich noch extrem ab, sehr schöne Szene. Ich könnte schon wieder wegfahren. Aber am Wochenende geht es erstmal ganz profan nach Kiel, ein bisschen im „Landsitz“ chillen 🙂

      Sandmann

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