Sternchen

Weniger ist manchmal mehr

Der XM ist tot, es lebe der XM. Aber das wird noch ein bisschen dauern 😢 Und da mein Taunus auch im Winterlager schläft und da ganz viel Blech und Liebe braucht (und bekommt) habe ich aktuell – kein Auto 😮 Also… außer dem Familien-Benz. Aber das ist was anderes. Urks. Das geht ja GAR nicht. Nee. Ich, kein Auto? Hallo? Unfassbar. Also jammerte ich laut ins Netz, und das Netz spendete Trost. Ich suchte ein unkompliziertes Auto mit vier Rädern und TÜV, das einfach nur fährt und nicht mehr als 500€ kostet. Keine charaktervolle Baustelle mit Geschichte und Hubraum, davon habe ich schon zwei auf dem Hof. Ha. Und wieder einmal habt ihr euch als unfassbar hilfsbereit und angenehm verrückt erwiesen 😂

Eine Autoholgeschichte beginnt bei mir oft mit einer Eisenbahn.

Mal wieder mit der Bahn.

Was habt ihr mir für einen geilen Scheiß angeboten! Ihr Verrückten! Golf 1. Ford Sierra Stufenheck. Hyundai Coupé. Peugeot 605. Scorpio Turnier! Aber entweder waren das ranzige Baustellen ohne TÜV oder coole Karren jenseits der preislichen Dreistelligkeit. Argh. Es sollte ja nur ein schlichtes Übergangsauto sein, coole Karren stehen hier genug rum 😬 Und dann meldeten sich fast zeitgleich Michael aus Hannover mit einem Audi 80 und Michael aus Bielefeld mit einer C-Klasse. Huch?

Einfach bekommen statt kaufen

Beide Michaels bewegen die genannten Autos diesen Winter nicht, beide Autos sind zugelassen und fahrbereit. Ich könnte das eine oder das andere einfach so haben, abholen, nicht ummelden und ab und an mal tanken. Bis mein Citroën fertig ist, dann bitte zurück bringen. Ja wie? Fremde Menschen bieten mir ihre kleinen Schätze an. Ich wollte mich schon auf den Weg zum Audi machen, als der hannoveraner Michael mir knirschend gestand, dass er den Schlüssel nirgends finden kann. Okay, dann sollte es also… eine C-Klasse von 1994 werden! Ich kaufe ein One Way Ticket für einen ICE nach Bielefeld.

Fast wie nach Hause kommen.

Am Bielefelder Bahnhof (ja ja ich weiß, Bielefeld gibt’s ja gar nicht, gähn) empfängt mich Michael mit einem kleinen, weißen Mercedes-Benz aus einem anderen Jahrtausend. Wir kennen uns virtuell schon ein bisschen länger: Ein Bekannter von mir wollte den W 123 Benz seines Papas verkaufen, und ich hatte den an Michael vermittelt. Papa sperrte sich dann aber irgendwie, und der Deal kam nicht zustande. Gut für mich – deshalb hat Michael nun diese C-Klasse aus erster Rentnerhand. Eine weiße C 180 Limousine von 1994 mit schlichter Elegance Ausstattung. Fensterheber und Holz, aber kein Schiebedach, keine Klimaanlage, dafür erst 80.000 Kilometer gelaufen und in rostfreiem Jahreswagenzustand.

Mal wieder chauffiert werden

Ein W 202 im Jahreswagenzustand

Ich glaube, ich habe noch nie eine Baureihe 202 in einem so tadellosen Zustand gesehen. Der Nachfolger des 190er „Baby Benz“ lief immer unter meinem Radar. Kompakt, rostanfällig wie alle seine Wasserbasislack-Geschwister und irgendwie nicht auf Anhieb schön. Die rostfreien Türen schmatzen hinter uns zu, und Michael chauffiert uns durch die Stadt zu sich nach Hause nach Leopoldshöhe. Er schnurrt, der Kleine. Und er wird von der Familie liebevoll „Sternchen“ genannt. Von innen riecht der wie ein Neuwagen, und der blaue Stoff mit dem lackierten Holz erinnert mich heftig an unseren ehemaligen Familienkombi, Baureihe 210. Den habe ich ein bisschen lieb gehabt.

Er gibt ihn mir einfach so mit…

In Leopoldshöhe gibt’s dann eine kurze, schnelle Übergabe. Michael muss noch zu einem familiären Termin und entschuldigt sich mehrfach, das passt aber rein zeitlich ganz gut. Ich wiederum muss noch zu Joe nach Uelzen, seinen 1976er BMW 316 fotografieren. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich bekomme nur zwei Bedingungen: Bitte nicht im Auto rauchen (mach ich niemals!) und bitte nicht über die 100.000 Kilometer rüberfahren, das möchte er gern selbst 😉 Beides kann ich ihm versprechen. Ich setz mich rein, bedanke mich noch einmal ein bisschen fassungslos und … fahr mit Sternchen los in Richtung Norden.

Reisetauglich!

Kompakt mit Steuerkette

Ein Auto, bei dem alles, was drin ist auch funktioniert. Vielleicht deshalb, weil nicht viel drin ist. Kein Tempomat, kein Außentemperaturdisplay. Ich gucke auf Anzeigen für Tank und Kühlwasser, Tacho und Drehzahlmesser. Mehr nicht. Fünf Gänge, der fünfte geht von 60km/h bis Vollgas. Mehr als 120 traue ich mir mit dem noch fremden, freundlichen Auto aber erstmal nicht. Auch wenn er eine Steuerkette statt eines Zahnriemens hat, anders als mein XM 🙁 Es ist ein Kompaktwagen. Viele sagen: Das richtige Mercedes-Gefühl kommt in der ersten C-Klasse ab 1993 nicht auf. Stimmt. Er fährt sich rau, etwas laut, recht straff. Mehr so wie ein Golf. Aber er strahlt stoische Zuverlässigkeit aus, und genau das brauche ich jetzt.

Sehe ich doppelt?

Kennt ihr das, wenn sich ein Automodell in die Wahrnehmung schiebt? Ich sitze in einer C-Klasse und beschäftige mich mit ihr – und sehe plötzlich überall C-Klassen 😊 Sternchen fährt sich großartig. Leichtgängige Kupplung, sauber einzulegende Gänge, alle Schalter sind da wo man sie vermutet und das Radio hat trotz stecken gebliebener Automatikantenne einen guten Empfang. Die lange Strecke über Uelzen bis nach Kiel spult der kompakte Krawalli mit den vier elektrischen Fensterhebern (Prioritäten setzen!) sorgenfrei ab. Ich mag den von Meile zu Meile mehr. Ich mag Autos, die einfach so funktionieren. Hoffentlich kann ich genügend emotionalen Abstand halten, Michael will den ja wiederhaben…

Laternenparker, aber nur manchmal.

Späte Liebe…?

Und ja – das klassische Shoebox Design von Meister Bruno Sacco kann man sich im Alter schönsaufen. Ich werde mich nie nie nie mit diesen riesigen, dreieckigen Rücklichtern anfreunden, die gefühlt die Hälfte des Hecks einnehmen. Aber davon ab strahlt die Baureihe 202 eine zeitlose, funktionale Eleganz aus. Das Teil ist fast 30 Jahre alt, das sieht man dem tatsächlich nicht an. Die meisten anderen Exemplare auf unseren Straßen haben dicke Rostplacken unter den Zierleisten, ums Kofferraumschloss rum, an den Türkanten und den Fensterrahmen. Sternchen strahlt in seinem reinen Weiß mehr Jungfräulichkeit aus als ein minderjähriger Schutzengel. Ein sympathischer Geselle aus Bremen. Oder Sindelfingen?

Mal über den Tellerrand gucken.

Sternchen wohnt jetzt übergangsweise bei mir. Ich passe auf ihn auf, pflege ihn und lasse ihn bei Eis und Schnee (und Salz) stehen. Ab und an gebe ich Michael eine kleine, immer positive Rückmeldung, wie es seinem Schützling geht. Es geht ihm gut. Natürlich kann man bei dem M 111 Vierzylinder und seinen 122PS von einer Zäh-Klasse sprechen, und versoffen ist das Ding auch noch. Immerhin E10. Na und? Müssen es denn immer hochverdichtete Eco-Tech Sparlinge, kraftvolle sechs Zylinder oder wenigstens ein Kompressor sein? Nein. Sternchen arbeitet und funktioniert regelrecht devot im Alltag und macht dabei auch noch eine richtig gute Figur. Und als ich mit ihm neulich an der Stelle vorbeifuhr, wo sich der Zahnriemen meines XM vaporisierte… verspürte ich sowas wie Urvertrauen.

Kilometer 102,0

Zuverlässigkeit und Einfachheit in Zeiten von Komplexität und SUV-Gigantomanie. Ich habe Sternchen inzwischen ein bisschen lieb. Verdammt. Vielleicht auch, weil ich den weißen Klotz komplett an meinem Leben teilhaben lasse. Wie alle meine Alltagsautos. Sie werden ein Teil von meiner Geschichte, also auch ein Teil von mir. Das… bindet irgendwie. Wenn meine Autos reden könnten… die würden euch Sachen erzählen, die nicht mal meine Mama weiß 😉 Wenn der Schnee und die Kälte endlich weg sind kümmere ich mich um meinen XM! Und ich versuche weiterhin, mich auf meine vorhandenen Autos und Baustellen zu fokussieren. Michael gibt Sternchen sowieso nicht her. Zum Glück 😉

Sandmann

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Über Sandmann

Die Zeit ist zu knapp für langweilige Autos, Abende vor dem Fernseher oder schlechten Wein. Ich pendel zwischen Liebe, Leben und Autos und komme nicht zur Ruhe. Aber ich arbeite daran.

13 Antworten zu Sternchen

  1. Bronx.1965 sagt:

    Ay Benzmann,

    von „versoffen“ würde ich nicht unbedingt sprechen. Die Kisten sind haltbar und sehr übersichtlich in Sachen Wartung.
    Mein Jüngster fährt nun den 2. vom Schlage 202 und ich mag die Dinger.
    Allerdings läuft der 2. welcher einen Zahnriemen statt Kette hat merklich leiser. Rost ist bei diesem Exemplar kein großes Thema (wir haben die üblichen Stellen behandelt), bei dem ersten 98er Exemplar sah das ganz anders aus. Die Pest war überall, weshalb er auch in den Export ging. Allerdings für einen guten Preis. 🙂 Interessant auch immer die Ausstattungs-Details bei den Dingern. Wagen 1 hatte Null, Nichts, aber ESD und SRA!!!

    Wagen 2, ein Esprit, ab Werk mit Standheizung, Schiebedach UND Klima. EfH 4 fach und MAL. Versteh einer die Kundschaft. 😉

    Ich denke, das wäre auch eine dankbare Karre für Dich. Fährt zuverlässig und sowas kannst du ja gut gebrauchen.

    Grüße nach Westen. Bis bald mal wieder.

    • Sandmann sagt:

      Ay Bronx,

      also ich finde 9 Liter Super bei so einem kleinen Auto durchaus versoffen. Es stört mich nicht, aber als Neuwagenkäufer hätte ich damals gezögert.

      Die Zuverlässigkeit und die – aus heutiger Sicht – simple Technik sind das, was für mich zählt. Ich fahre den gern, er ist in der Stadt agil und verhält sich freundlich 🙂 Ein sympathischer Geselle.

      Ich würde mich auch auf einen auf Dauer einlassen, aber da müssten dann die markanten Stellen gut gewachst sein und er müsste was besonderes haben. Rote Innenausstattung oder sowas. Wie du schon schreibst – es ist verrückt, was die Neuwagenkäufer sich da zusammenkonfiguriert haben. Bei der S-Klasse ich das noch viel schräger, da gibt es Buchhalterausstattungen mit Kurbelfenstern, ohne Klimaanlage und Schiebedach… aber mit 420er V8 drin. Handgeschaltet. What??

      Ich mag das, wenn Autos etwas über ihre Vorbesitzer verraten. Und ich nehme Sternchen jetzt als Hinweis auf die Suche nach Ruhe in meinem Leben. Aber auch als Antrieb, um meine zickige Franzosenliebe wiederzubeleben.
      Bis bald

      Sandmann

  2. ralf unland sagt:

    @Bronx.1965 Einen 202 gab es nie mit Zahnriemen .Das hätte MB zu der Zeit nie zugelassen. Aktuelle Modelle gibt es tatsächlich mit Zahnriemen haben dann einen Renault Motor 🙁

    • Sandmann sagt:

      Ay Bronx,

      spannend. Auch ich bin der Meinung, dass Mercedes in dieser Ära ausschließlich Steuerketten verbaut hat.
      Nur weil sowas angeboten wird bedeutet es ja nicht, dass es auch eingebaut werden kann 😀 Was ist das für ein Motor? Hast du mal Daten? Ich lerne gern dazu…

      Sandmann

    • OST sagt:

      Tüddelkram! Die gab es nicht mit Zahnriemen, aber wenn Du das Gefühl hast das er ruhiger läuft, ist das ja auch schon mal was.

  3. Bronx.1965 sagt:

    Moin,
    ihr macht mich echt neugierig! Anscheinend bin ich da wohl einem Irrtum aufgesessen.
    Aber wenn dem so ist, korrigiere ich mich gern.
    Ruhiger läuft der trotzdem. 🙂

  4. pico24 sagt:

    Finde den 202er sehr toll. Nicht schön aber für mich ein klassischer Mercedes. Das Interieur gefällt mir sogar sehr gut.

    • Sandmann sagt:

      Ay pico24,
      das Interieur erinnert sehr an den 210er. Von den Formen her ist es tatsächlich ein klassischer Mercedes, er sieht ja ein bisschen wie eine 140er S-Klasse aus, aus der man die Luft rausgelassen hat 😂 Vom Fahren her kenne ich ja nun nur den kleinen 180er, und ich muss sagen, das „Mercedes-Gefühl“ vermittelt der nicht. Ich weiß nicht ob die größeren Motoren das können. Trotzdem finde ich den liebenswert und bin begeistert ob seiner Zuverlässigkeit. Yay. Ich bin jetzt ein Fan…
      Frohes Neues und Größe aus Wales
      Sandmann

  5. Martin sagt:

    Hey Sandmann,
    die erste C-Klasse ist in der Tat ein tolles Auto. Gerade in weiß hätte ich es damals als das spießigste empfunden, heute freue ich mich über die schlichte Eleganz.
    Mein Fahrschulauto war ein C180 (ohne d oder CDI), zu einer Zeit, als meine Klassenkameraden auf Golf Diesel Fahrschule machten…
    Allzeit gute Fahrt und viel Kraft beim Zurückgeben 🙂
    LG Martin

    • Sandmann sagt:

      Ay Martin,
      schlicht ja, elegant nur bedingt… Das sind für mich alles Attribute, die ich den alten S-Klassen zuspreche. Der W 202 ist in meinen Augen ein gut durchkonstruierter, robuster Kompaktwagen mit vielen Mercedes-Qualitäten. Man kann den nicht mit dem Fahrkomfort der größeren Modelle vergleichen, aber das verlangt ja auch niemand 😉
      Ich bin grundsätzlich ein Freund von Autos, die lieb zu mir sind. Und Sternchen ist es definitiv. Das wird schon ein bisschen hart mit dem zurückgeben. Aber dann… ist ja auch der XM wieder fertig, und ich vermisse den sehr sehr… SO gesehen ❤️
      Frohes Neues aus Wales
      Sandmann

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