Hausgeflüster

Mittendrin statt nur davor…

Einmal noch. Samstag Vormittag in einer kleinen Siedlung am Rand einer kleinen Stadt. Nachträglich verklinkerte Häuser aus den 50er und 60er Jahren, aus denen die Spießigkeit des Mittelstands trieft. Große Gärten, schmale Schleichwege und weite Felder. In diesen Gärten bin ich auf Bäume geklettert. Durch diese Schleichwege ritt ich halsbrecherisch mein Klapprad. In diesen Feldern spielte ich mit meinen Freunden bis lange nach der Abenddämmerung. In mir tobt die bittere Romantik des Rausgerissen-Werdens, die Suche nach einer unvollendeten Kindheit hier, wo ich geboren wurde. Auf dieser Suche öffne ich heute eine weitere Tür: Die zu meinem Elternhaus. Mein Kinderzimmer! Nach 30 Jahren wurde ich eingeladen, nochmal reinzugehen. Einmal noch.

Frühstück bei Olaf. Gemischte Gefühle.

Ich bin nervös.

So viel Wein war das gestern Abend gar nicht, aber ich fühle mich leicht wattiert. Beim Anziehen bin ich mit meinem linken großen Zeh in einem kleinen Loch meiner Jeans hängen geblieben, hab die weit aufgerissen und mich dabei unelegant langgelegt. Gestern habe ich verschüttete Eindrücke mitgenommen, Impressionen in einer Auszeit, unbegleitet durch meine Kindheit laufend. Heute wird’s für mich episch. Einmal noch. Die ältere Dame, die seit 1991 mit ihrem Mann in „unserem“ Haus lebt, hat mich freundlich auf einen Kaffee eingeladen. Selbstverständlich dürfe ich einmal reinschauen, 11:00 Uhr passe gut. Aber ich solle mich darauf einstellen, dass sich viel verändert habe. So viele Konjunktive. Olaf, Menni, vielen Dank für das leckere Frühstück aber seht es mir nach – ich fahr jetzt mal rüber nach Oldenstadt-West.


SSSSSIIIIIT ping ein kleiner Flashback.

Vor 10 Jahren…

Fast immer, wenn ich zerrissen wie meine Hose Uelzen und die Siedlung Oldenstadt-Welt heimsuche, gehe ich die „große Runde“ spazieren. Ich parke vor meinem Elternhaus und laufe über die Felder, meinen alten Schulweg entlang. Und sauge auf, was sich verändert hat oder was noch so ist wie in den 70ern und 80ern. Da kommt dann sowas hier bei raus, und Olaf ist auch immer irgendwo dabei 😉 Das ist etwas pathologisch bei mir, ich weiß ich weiß.


Heute ist es anders. Heute parke ich wieder vor meinem Elternhaus, aber diesmal darf ich mutig klingeln und freundlich guten Tag sagen. Ich darf rein. Ich weiß gar nicht so recht wie ich mich grad fühle. Es riecht nach Carbolineum von den Gartenzäunen, nach Mittagessen und nach Zuckerfabrik. Ich gehe durch die Gartenpforte die Waschbetontreppen hoch und drücke auf die Klingel.

**schluck**

Oh Mann. Oh Mannomann. *herzklopfen*
Eine freundlich guckende Frau öffnet die Tür und identifiziert mich als der, der ich wohl bin. Oder der ich mal war? Und sie bittet mich rein. Ich habe sie und ihren Mann einmal gesehen, vor über 30 Jahren, als das Haus übergeben wurde. Sie kann sich an mich und meine Schwester Anita vage erinnern. Ich plappere aufgeregt ohne Punkt und Komma und erkläre ihr meine Macke, dass ich hier noch einmal reingehen möchte.

Zeitkapsel

Sie hat volles Verständnis, sie stand auch irgendwann einmal mit diesen Gedanken vor ihrem Elternhaus 🙂 Ob ich denn erst einen Kaffee möchte, oder erstmal überall gucken…? Erstmal überall gucken! Bitte!! Und schon im Hausflur springt mich der Eindruck an, als habe sich eigentlich überhaupt gar nichts verändert.

So verrückt das klingt – zu Hause!

Die dicken, grünen, runden Fliesen liegen da wie 1980. Die Heizkörper, die Zargen und die Türen, sogar die alten Klinken sehen aus, als wären wir letzte Woche erst gegangen. „Wir hatten nie das Bedürfnis, das auszutauschen. Es funktioniert ja noch alles…“ Ich schleiche vom Flur runter in den Keller. Schade, der wuchtige runde Bakelit-Lichtschalter ist weg. Der hat immer so wundervoll SCHLONK gesagt, wenn er den dunklen Keller in weniger furchteinflößendes Licht tauchte. Rechts die Speisekammer. Geradeaus Opas „Holzkeller“, wo Kistenholz, Kleinholz und Kohlen gebunkert wurden. In der Waschküche stand Omas großer, steinerner Stampfkessel, in dem sie Wäsche gewaschen hatte. Der ist natürlich weg. Aber er hat eine Spur hinterlassen…

Der Fußabdruck von Omas Waschkessel

Ich erspare euch die ungefähr 100 Fotos und kleinen Videos, die ich insgesamt gemacht habe. Für euch sind das Orte ohne Bedeutung, darüber hinaus ist es der private Wohnbereich dieser Familie. Und allein deshalb reiß ich mich zusammen. Aber bevor ich euch wieder mit nach oben nehme gucken wir noch in Opas Keller.

Opas Werkbank

Ein kleiner Raum am Rand zur Außentreppe in den Garten. Eine Werkbank, Schränke und allerhand Schrauben und Krams, den man zum Reparieren braucht. Hier haben wir Drachen gebaut, kleine Schiffe für die Elbe-Seiten-Kanalüberquerung ausgerüstet und mein Klapprad repariert. Das hieß Bob. Ich war nie in einer Kita. Meine Eltern waren beide Lehrer, und meine Großeltern lebten mit im Haus. Oben. Am Vormittag war mein Opa also quasi mein Erzieher mit handwerklichen Kriegskompetenzen, und meine Oma hat lecker gekocht und mir Äpfelchen aus dem eigenen Obstgarten geschnibbelt. Die habe ich dann hier unten geschnurpst, während Opa hämmerte und sägte.

Opas Werk-Keller

Die damals™ schon baufällige Werkbank mit dem dicken Schraubstock ist Geschichte. Aber es ist noch immer eine Werkbank da, sogar ein Schraubstock. Und einer der Hängeschränke aus der damaligen Küche hat seinen Weg an die Wand gefunden. Ich werde ganz still. Von ganz weit weg kann ich meinen Opa werkeln hören, manchmal leise vor sich hin schimpfend, weil er sich mit einem Spaziergänger am Zaun gestritten hatte. Oben in der Küche singt meine Oma Kirchenlieder und klötert mit der Feuerhexe. Ich weiß nicht, ob ich mich an irgend einem Moment danach jemals wieder so geborgen gefühlt habe. Es gab irgendwann dieses allerletzte Mal hier unten. Und danach ging es in Richtung erwachsen werden. Diese Gedanken sickern durch meinen Kopf, während wir wieder nach oben gehen.

Im Kinderzimmer

Die Küche war quasi mitten im Haus, als wir hier noch wohnten. Durch sie ging man vom Flur aus in mein Kinderzimmer und von da aus in den Hof. Die Küche ist heute ein Gästezimmer, die Tür zu meinem Kinderzimmer gibt es nicht mehr. Oha. Wir gehen durch das Terrassenzimmer (ein Anbau mit Schiebetüren) ins große Wohnzimmer, in dem noch immer der Kachelofen mit der gemütlichen Holzbank davor steht. Was für ein Monstrum. Das angrenzende elterliche Schlafzimmer ist jetzt zur Hälfte mit neu reingezogener Wand ein Arbeitszimmer, zur anderen Hälfte mit rausgerissener Wand die neue Küche, die seinerzeit… *schluck* Ich betrete durch eine neue Tür im Wohnzimmer die neue Küche und stehe nach über 30 Jahren wieder in meinem Kinderzimmer.

Zimmer mit Aussicht.

Ich bewohnte in den ersten 12 Jahren meines Lebens den Raum mit Zugang zum Hof. Nicht uncool. Die Küchenzeile irritiert mich ein bisschen, eigentlich stand hier doch eben noch ein Hochbett mit einem Schrank drunter? Ein Bett, von dem aus ich morgens noch aus dem Fenster gucken konnte und die Lichter der Schiffe auf dem Kanal verfolgte, wie sie durch den kalten Wintermorgen schnitten. Oder von wo aus ich an warmen Sommerabenden einer einzelnen Fliege lauschte, die hinter der Gardine mit kurzen Verschnaufpausen rumsummte.

Die Fensterbank

Aber meistens saß ich auf einem Stühlchen vor der Heizung an der Fensterbank und bastelte Westernstädte oder Mississippi-Raddampfer aus der Micky Maus. Ich braute undurchsichtige Substanzen mit meinem Chemiebaukasten zusammen oder setzte aus Versehen den Kessel der Dampfmaschine in Flammen. Oder ich guckte mit meinem Fernglas in den schier endlosen Sternenhimmel und versuchte, neue Welten zu entdecken.

anfassen ist wie riechen

Der Heizkörper und die steinerne Fensterbank sind unverändert. Auf ihr ahnt man sogar noch die für immer eingebrannten Duppsen und Flecken, die von meinem damaligen Schaffensdrang und Experimentierwillen stammen. Kennt ihr diese eingefrästen Sicken unter dem Fenster selbst? In ihnen sammelte sich an kalten Tagen das Kondenswasser des Fensters. Ich bin sowohl mit meinen Matchboxautos als auch einfach nur mit meinen Fingern unzählige Male über die Kanten dieser Sicke gefahren, die zu den Seiten leise ausläuft und sich ebnet. Warum merkt man sich so etwas völlig unwichtiges, während viel spektakulärere Momente verschwinden? Warum speichern meine Nerven das Gefühl perfekt ab, wenn sich unter den streichenden Fingern die Sicke zur Oberfläche hin erhebt? Ich streiche drüber und schlucke einen Kloß runter. Die Dame hinter mir sagt nichts. Sie scheint zu verstehen.

Jensi guckt raus

Ich hocke noch einen Moment in „meinem“ Zimmer und gucke in den Garten und über die Felder. Ich sehe und höre meinen Papa den Rasen mähen. Meine Mama pumpt unter den Obstbäumen mit der Grundwasserpumpe die Gießkannen voll, und meine Oma gießt damit die Erdbeeren und das Gemüse. Irgendwie… fühlt es sich gut an, hier zu sein. Einmal noch. Es hat sich tatsächlich viel verändert, aber es sind weniger die Details als die Tatsache, dass alle Zimmer einen Schritt nach links gemacht haben.

Generationen später

Ich kann noch immer nicht beschreiben, was ich gesucht habe. Aber ich habe eine sehr nette Frau und ihren Ehemann gefunden, die mich noch einmal in meine Kindheit zurück gelassen haben. Jetzt gibt’s einen leckeren Kaffee und, am Küchentisch in meinem Kinderzimmer sitzend, viel Geplauder. Über Familie, Trennung, und den Umzug in ein anderes Bundesland. Über Kinder, die auch hier schon lange aus dem Haus sind und nur ein paar bunte Window Colors hinterlassen haben. Ich bin beseelt.

Hause…

Ich verabschiede mich immer höflich von schönen Orten, an denen ich etwas Zeit verbracht habe. Und ich sage hallo, wenn ich wieder zurück bin. Ich weiß gar nicht, ob ich mich jemals bewusst von meinem Elternhaus verabschiedet habe. 1983 wurde ich mit auf eine Reise genommen und entdeckte neue Welten. Ganz ohne Fernglas und nie wieder an meiner Fensterbank sitzend. Und jetzt? Dieser nette Empfang heute und mein Wiedersehen der Räume einer anderen Zeit machen es mir etwas leichter, tschüss zu sagen. Nicht lebe wohl. Vielleicht komme ich ja nochmal wieder. Einmal noch?

kaputt…

Puh. Eigentlich wollte ich noch bei Klaus gegenüber reinschauen. Aber ich habe, bevor ich nach Kiel fahre, nur noch das Bedürfnis, mein Schwesterchen Anita zu sehen. Ich fahre erstmal ein ganzes Stück des Weges ohne Musik und versuche, meine Stimmung einzuordnen. Die kaputte Hose von heute Morgen beschreibt es. Ich fühle mich gut, aber leicht zerrissen.

Man könnte meinen, dass ich jetzt ein Kapitel meiner Vergangenheit abgeschlossen hätte. Aber es fühlt sich nicht so an. Vielleicht lebe ich einfach damit, dass sich ein paar Dinge nicht mehr bearbeiten oder abschließen lassen. Und wenn ich das vor mir selbst dadurch klarkriege, dass ich ab und an mal hier her fahre – dann ist das womöglich einfach so. Ich drücke meine große Schwester ganz doll, und ich bin wieder auf der Autobahn.

In der Blase durch den Tunnel

So viele Gedanken.
Der kleine Junge in mir will die Blase perfektionieren. Das Haus zurück kaufen und ein oder zwei Zimmer wieder genau so einrichten, wie sie damals waren. Der Erwachsene freut sich dann auf herrliche Retro-Weinabende mit allen Freunden aus Nah und Fern 🙂 Der Erwachsene hat aber auch zu wenig Geld für so ein Vorhaben übrig. Häuser kauft man eben nicht so einfach wie alte Autos. Schade eigentlich. Aber so oft, wie es mich hier her zieht, sollte ich vielleicht wirklich mal darüber nachdenken, wo genau ich meinen Lebensabend verbringen will…? In Hamburg oder Kiel ist das nicht bezahlbar. Also bleiben Dänemark oder Uelzen. Ich mag es, wenn man Optionen hat. Und jetzt gebe ich zurück in den Alltag und die Realität. Wir lesen uns.

Sandmann

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Über Sandmann

Die Zeit ist zu knapp für langweilige Autos, Abende vor dem Fernseher oder schlechten Wein. Ich pendel zwischen Liebe, Leben und Autos und komme nicht zur Ruhe. Aber ich arbeite daran.

16 Antworten zu Hausgeflüster

  1. Oliver Sprenger sagt:

    Tja, Du hast wenigstens noch was, wohin Du pilgern kannst. Mein Elternhaus, meine Grundschule der 2. bis 4. Klasse sowie meine Gesamtschule existieren alle nicht mehr. Alles abgerissen. Und sowieso 9000 km weit weg …

    • Sandmann sagt:

      Ay Oliver.
      Die 9000 Kilometer sind ja selbst gewählt. Aber warum ist der Rest denn weg? Stadtsanierung? 🙁
      Viele Grüße aus der Nähe von „damals“ du Guter.
      Sandmann

      • Christian Gremmel sagt:

        Guten Morgen, lieber Sandmann 😃. Jetzt habe ich diesen wunderschönen Bericht über einige Tage regelrecht aufgesogen, ihn immer wieder und wieder durchgelesen – hach, ja! Da habe ich direkt ein paar Tage gebraucht, um in ruhigen Momenten so einiges revue passieren zu lassen.
        Da sind sie wieder vor meinen Augen und in den Erinnerungen, die Tage in den 80ern, die immer noch sehr spießige Siedlung bei meinen Großeltern, und der Übergang in die Gegenwart – ich habe das Glück, das ich noch heute in genau dieser Reihenhaushälfte wohne – eine Neubausiedlung aus den 60ern.

        Die Haustüren in der Strasse in den identischen Häusern sind inzwischen alle getauscht – bis auf meine. In den 60ern bei Kauf in himmelblau, später dunkelgrün, dann mal braun und in Omas letzten Jahren zum Schluß in weiß gestrichen.
        Vor zwei Jahren kam mir beim betrachten alter Fotoalben der Gedanke, genau diese inzwischen über 50 Jahre alte Haustür wieder in dem himmelblau erstrahlen zu lassen, wie es einst war. Und ja – es gefällt mir sogar richtig gut!

        Wenn ich aus unserem Schlafzimmer in den Garten schaue, sehe ich zwischen den Kirschbäumen und Hecken meinen Opa wie so oft mit der Astschere oder dem alten Handmäher stehen – in seinem grünen Parka und der blauen Helmut-Schmidt-Mütze auf dem Kopf. Opa – er war immer mein Held.

        Selbst die gefrästen Rillen in den Fensterbänken sagen mir was – es gibt sie noch und in den Kondenswasserrillen fahren noch immer die alten Siku und Matchbox von damals. Der Fahrer ist allerdings nun mein Sohn… Aber sieh selbst. 😃

        Diese Zeitkapsel in Form dieses 60er Jahre- Reihenhaus – wie froh bin ich, sie zu haben!

        • Sandmann sagt:

          Ay Christian.

          Danke für diesen sehr empathischen und emotionalen Kommentar – und dass du ihn aus Facebook hier in den Blog rüber gerettet hast. Mir ist beim Lesen immer wieder ein bisschen kribbelig geworden, aber spätestens als du von deinem Opa im Garten und abschließend von den Kondenswasserrillen schriebst… mit dem Bild von der Hand deines Sohnes… da wusste ich, du verstehst absolut was mich umtreibt. Danke dafür.

          Ich empfehle dir als Lektüre einmal „Die Zeit, die Zeit“ von Suter. Das wurde auch mir im Zusammenhang mit meinen zeitreisen nach Uelzen empfohlen, und es ist eins der abgefahrensten Bücher zum Thema „ich mache alles so wie damals“, die ich je gelesen habe. Gib’s dir mal, ungeprüft. Du wirst es mögen.

          Auf die Zeitkapseln dieser Welt. Wir lesen uns!
          Sandmann

  2. MainzMichel sagt:

    Bei mir ist es kein Elternhaus, sondern nur eine Elternwohnung. Gemietet. Und meine Eltern leben immer noch darin, von daher habe ich es einfach. Am Donnerstag fahren wir wieder zu ihnen, Papa wird dreiundachtzig. Ich hoffe, das kann ich noch lange tun.
    Was ist eigentlich mit Deinen Eltern? Leben sie noch (beide) und wie ist Dein Verhältnis zu ihnen?
     
    Adios
    Michael

    • Sandmann sagt:

      Ay Michael,
      ich glaube (wie immer) auch hier, man weiß erst, was man hatte, wenn es nicht mehr da ist. „Genieße“ deine Eltern in genau der Wohnung, ich wünsche dir ebenfalls, dass du noch lange da hin kannst und sie bei dir sind.

      Meine Eltern haben nach der Trennung 1980 beide neu angefangen und mir einen Haufen Halbgeschwister beschert 😀 Mein Papa ist in der Nähe von Uelzen geblieben. Der kommt auch in ein paar Geschichten vor (hier zum Beispiel: https://www.sandmanns-welt.de/nicht-wirklich-ein-winterauto/) und ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu ihm. Auf der Ebene, auf der es möglich ist. Vor 40 Jahren ist einiges schief gelaufen, aber ich kann das heute nicht mehr ändern und ich bin frei von Vorwürfen. Ich muss da mal wieder hin glaube ich. Er fehlt mir…

      Meine Mama ist mit uns damals nach Plön gezogen und noch immer mit dem Mann verheiratet, der das „verursacht“ hat 🙂 Ich hatte eine gute, behütete Zeit da, aber ich merke wie es mich „nach Hause“ zieht. Ja, sie lebt noch, und das sogar sehr gesund und gut. Alle leben noch, Papa und Mama und die jeweiligen neuen Ehepartner. Meine Mama ist sehr viel empathischer als mein Papa, und auch wenn es aktuell viele offene Geschichten und aufgerissene alte Wunden gibt, ich freu mich drauf sie am kommenden Wochenende zu ihrem Geburtstag zu sehen. Und die anderen großen und kleinen Nasen auch 🙂

      Ich versuche, in meinem Leben und mit meinen Kindern ein paar Sachen anders zu machen als meine Eltern. Aber niemand macht alles richtig. Nun gut, die erste Ehe habe ich ebenfalls verkackt. Aber ich glaube ich definiere „Familie“ herzlicher und offener, als andere in meiner „Familie“ das tun. Doch das dürfte eher ein Thema für ein Bier sein, wenn ich einen Bulli hole 😉

      In diesem Sinne
      Sandmann

  3. Olivia Kernke sagt:

    Hallo Jens, eine schöne Geschichte – ich muss auch mal wieder an meinem Elternhaus vorbeifahren – da wo wir mit Oma und Opa gewohnt haben. Schon 1973 sind wir ausgezogen und trotzdem ist es das Haus meiner Kindheit und der Erinnerungen…

    Liebe Grüße
    Olivia

    • Sandmann sagt:

      Liebe Olivia,

      wie schön was von dir zu lesen! Bist du denn seit 1973 einmal da gewesen? Oder gar drin? Würdest du reingehen wollen und schauen? Ich habe noch immer eine so tiefe Verbundenheit zu diesem Haus, ich weiß manchmal gar nicht so recht wie ich damit umgehen soll…

      Viele Grüße nach Drebber
      Sandmann

  4. Hi Sandmann,

    Elternhaus, puh, das ist ein Thema, und deine Geschichte echt körnig. Ich kann da gut mitgehen, und habe ´ne Ahnung, wie das ist.
    Meins Elterhaus steht nebenan und ich kenne die Leute, die drin wohnen. Aber rein möchte ich nicht mehr. Das sage ich völlig ohne Groll oder sowas. Ausgezogen bin ich vor einem Vierteljahrhundert, und habe mit dem Haus an sich abgeschlossen, als der letzte der alten Herrschaften vor gut 8 Jahren ausgezogen ist. Ein paar Stunden danach, so, als würde nochmal jemand zurückkehren wollen, habe ich in allen Räumen Fotos gemacht. Was ich dort sehe, trage ich bei mir, und ich möchte diese Bilder in meinem Kopf nicht durch neue ersetzen.

    Herzliche Grüße, Dirk

    • Sandmann sagt:

      Ay Dirk,
      das kann ich total nachvollziehen. Ich glaube, jeder hat seine Art, mit der eigenen Vergangenheit umzugehen. Und nicht jede ist gut oder falsch oder schlecht oder richtig. Du hast deine alten und guten Erinnerungen gekapselt und trägst sie im Herzen. Ich überschreibe sie mit dem heutigen Zustand, suche aber noch Spuren von damals. Seufz. Was auch immer wir beide damit erreichen wollen. Ich glaube am Ende nur ein gutes Gefühl.
      Guten Start in die neue Woche
      Sandmann

  5. Michael Riehl sagt:

    Lieber Jens,

    noch bevor ich diesen Blog gelesen habe, wusste ich, dass ich ihn mögen werde. Schon beim Blick auf das Bild und die Zeile mit der Spießigkeit des Mittelstandes.

    Genau dieses Gefühl, zwischen Magendrücken und Wiedersehensfreude, zwischen Ankommen und gleich wieder gehen müssen, kenne ich SO genau.

    Meine Kindheit war leider von vielen Umzügen geprägt, Langenhagen, Neustadt, Berenbostel, Neustadt, Hannover. Unser Reihenhaus in Langenhagen, meinem Geburtsort, war schmal und 1960 gebaut. Dann ging es nach Neustadt am Rübenberge, und diesen Ort liebe ich bis heute. Unendlich oft bin ich seitdem wieder da gewesen, mit dem Motorrad langsam durch die Straßen getuckert und habe meine Kindheit gesucht. Dort, wo ich damals in der Feldmark spielte, ist heute ein riesiges Gewerbegebiet. Das tut weh. Trotzdem gibt es diese Dinge…
    …den Löwenkopf an der Leinebrücke und das Gefühl, darüber zu streichen,
    …den Geruch der Leine an der Apfelallee
    …das Schreien der Kinder im Freibad
    …und zack, bin ich wieder klein und laufe in der kurzen Lederhose rum.
    Das mache ich mehrmals im Jahr.

    Na klar hätte ich gerne unser damaliges Haus wieder, das mit dem schönen Obstgarten. Aber das steht sicher nicht zum Verkauf und wenn, würde ich es nicht bezahlen können.

    Aber tatsächlich habe ich gerade etwas sehr, sehr emotionales getan. Nachdem mein Haus dank Scheidung nun ein anderer bewohnt, habe ich mir in einer Reihenhaussiedlung der 60er ein winzig kleines Reihenhaus gekauft. So, wie das, in dem ich geboren wurde. Der gesamte Stadtteil (in Celle) besteht aus Straßen und Häusern um 1960 und es ist wie eine Zeitreise, dort hin zu kommen. Ein Stück Kindheit, ein Stück Seelenfrieden, und nicht zuletzt ein Ort, der bleibt, weil er keiner Bank, keiner Frau und keinem anderen als mir gehört. Wenn man so will, das, was vom Leben irgendwann mal übrig bleibt.

    Und nun mache ich es anders herum. Mein Haus, Baujahr 1960, habe ich erst 61 Jahre später kennen gelernt. Ich muss also eine Wissenslücke von 60 Jahren schließen, um meine Zeitreise komplett zu machen. Statt meine eigene Geschichte und deren Spuren zu suchen, versuche ich mich so meinem Haus anzunähern. Habe alte Fotos vom Haus gefunden, ein bisschen was über frühere Bewohner heraus gefunden und komme langsam an den Punkt, dass ich einziehen kann, weil ich das Haus kenne. Weiß, wie lange dafür gearbeitet wurde, wo früher Zucchini im Garten standen und dass die Nachbarsenkelin „Onkel Heinz“ in ihr Herz geschlossen hatte.

    Da bin ich ziemlich komisch…aber einfach einziehen, ohne Idee, was da mein neues Zuhause ist, würde mir schwer fallen…

    • Sandmann sagt:

      Ay Michael,

      ich habe mir ein bisschen Zeit gelassen mit der Beantwortung deines sehr beeindruckenden und intensiven Kommentars… Ich musste ein paarmal schlucken.

      Ich kann auch, vielleicht wie du wenn du meine Worte liest, GENAU nachvollziehen was dich umtreibt und wie du dich fühlst. Du beschreibst es sehr empathisch, und obendrauf kommt noch, dass meine Großeltern väterlicherseits in Neustadt am Rübenberge lebten und wir seinerzeit wirklich oft dahin gefahren sind 🙂 Ich habe viele sehr schöne Erinnerungen an diese Stadt und den piefigen Randbezirk, und auch hier gibt es die Feldmark nicht mehr. Da ist kein Gewerbegebiet, sondern ein Neubaugebiet, aber weg ist weg. Keine langen Feldwege mehr, keine einzelne Eiche irgendwo, keine rauschende Gerste oder der DUft nach frisch gemachtem Heu.

      Ich bin da einst mal wieder eingetaucht, kennst du den Artikel? Du wirst ein paar der Orte erkennen: Das eingemauerte Kind

      Deine Herangehensweise an „dein“ neues altes Haus finde ich sehr liebenswert. Alte Häuser haben eine Seele. Es sind eben nicht diese antiseptischen Niedrigenergiebunker, in denen junge Ehen zum Scheitern verurteilt sind. In alten Häusern sind viele Geschichten passiert, und jede hat ihre Aura hinterlassen. Gute wie schlechte. Ich könnte in keinem Haus leben, in dem jemand umgekommen ist. Ich glaube, so etwas spürt man. Andersrum sind die schönen Geschichten des Lebens ein gutes Karma in den Wänden. Und Onkel Heinz ist irgendwie immer noch ein bisschen da.

      Du machst das genau richtig… Ich habe auch so die eine oder andere Idee, was mein endgültiges Zuhause werden könnte. Bisher habe ich es noch nicht gefunden, oder ich kann es nicht bezahlen. Die Immobilienpreise in Kiel und Hamburg machen schlechte Laune. Die sind doch alle irre…

      Mögen wir irgendwann zur Ruhe kommen. Auf eine gute Art. In diesem Sinne
      Sandmann

  6. Micha sagt:

    Lieber Jens,

    und ob ich da etwas wieder finde. Diese Kanone, überhaupt der ganze Amtsgarten, das war meine Kindheit. Mit Kaufhaus Hibbe und EDEKA Kollmeyer, der heute, glaube ich, ein trostloser Laden für Anglerbedarf ist. Dort, in der Wiesenstraße und später noch einmal Am Ziegeleiberg, haben wir gewohnt. Es war eine heile Welt (bis auf Kalle aus der Gartenstraße, der bei allen gefürchtet war) und vielleicht ist es das, was man in den unglaublich kalten und brutalen Zeiten heute sucht. Heile Welt.

    Vielleicht finde ich ein Bisschen davon in Celle wieder. Es ist die heile Welt eines anderen, oder besser vieler anderer. Aber mit jedem Moment, in dem ich mich damit beschäftige, wird es ein Staubkörnchen voll meine heile Welt. So, wie man beim gebrauchten Auto immer als erstes neugierig guckt, ob die Vorbesitzer etwas darin vergessen oder verloren haben. Eine Münze, ein Haargummi oder eine Eintrittskarte vom Schwimmbad. Es ist irgendwie das Gleiche. Wenn man so ist, wenn man auf dem Rückweg aus NRÜ weint oder wenn man ein altes Auto lieber fährt als ein Neues, wird man sich trotz KfW45-Standard in keinen sterilen Neubau ohne Gänseblümchen im Garten verlieben. Wer würde beim völlig neuen Haus schon das erste Dübelloch in die Wand bohren? Ich habe Fotos aller Tapeten gemacht, die in meinem alten Haus übereinander klebten. Und ich fand die Fensterbänke mit den Wasserrillen, die sagten, dass sich nichts verändert hat. Willkommen zuhause, wo warst Du so lange?

    Ich mache einen Wein auf, einen Primitivo Doppio Passo, und proste Dir zu. Auf damals…

    • Sandmann sagt:

      Ay Michael,

      ja prost, auf damals.
      Ich war noch sehr klein, als wir meine Großeltern regelmäßig besuchten. Tatsächlich kann ich mich nicht an viel in der Stadt erinnern. Aber im Schaufenster vom Kaufhaus war ein Modellbausatz vom Imperialen Sternzerstörer, den ich unbedingt haben wollte (und auch zu Weihnachten bekam). Na und dann der Fußweg unter der Bahn durch und alles um die Straße herum (Saarstraße). Die Tour in den Amtsgarten ist ja nun auch schon wieder sehr lange her. Ich muss wohl mal wieder da hin 🙂

      Sodenn
      Sandmann

  7. Michael sagt:

    Lieber Sandmann,
    vor einigen Tagen bin ich durch einen Facebookpost auf dieser Seite gelandet und arbeite mich seitdem begeistert durch alle Beiträge. Einer ist besser als der Andere und alle würden einen Kommentar verdienen. Die Verbindung von Technischen Beiträgen zu zum Teil sehr persönlichen Geschichten und Erfahrungen fasziniert mich. Oftmals denke ich, da erzählt jemand meine Geschichten. Ich habe vieles, das Du beschreibst, ähnlich erlebt. Wir sind im gleichen Alter, ich bin in einer Nordhessischen Kleinstadt aufgewachsen und hatte auch ab dem 16 Lebensjahr immer ein altes Auto mit welchem ich Samstags auf dem Betriebsgelände des Betonwerkes in welchem mein Vater arbeitete mit Freunden einen 5 Liter Kanister leerfahren durfte . Meinen Besten Freund habe ich auch mit 17 verloren, wenn auch nicht durch einen Autounfall. Dein Beitrag dazu hat mich sehr berührt. Mit einem anderen Freund habe ich bei der Bundeswehr Comics entworfen, er hat gezeichnet, ich habe die Geschichten geliefert. Das war 1992, also 2 Jahre nach Dir. Ich war überrascht, wie ähnlich sich diese Zeichnungen sind. Ich muss mal sehen ob ich da noch was von finde.
    Zu allen meinen Autos hatte ich auch eine sehr persönliche Beziehung, es waren aber nicht so Stilvolle 70er Modell wie bei Dir. R5 Alpine Turbo, Alfa Giulietta, Fiat Ritmo 😊, einen Trabbi, VW-Käfer, dann später die Liebe zum 124er Benz 300D , um nur ein paar zu nennen. Alle diese Kisten habe ich auch immer weitestgehend selbst repariert. Ich hatte mit einer Lebensgefährtin ein großes Haus mit viel Platz für Autos und Werkzeug. Nach der Trennung musste auch alles schnell raus und ich musste mich von vielem trennen, als das Haus verkauft wurde. Da habe ich mich auch in einer Deiner Geschichten wiedergefunden.
    Dieser Bericht über den Besuch in dem Haus Deiner Kindheit war nun der bisher Letzte, welchen ich gelesen habe. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie es Dir dabei gegangen sein muss. Ich bin auch bei meiner Mutter und den Großeltern in einem Doppelhaus aufgewachsen. Der Bakelitschalter ist noch immer an der Kellertreppe (auf Omas Hausseite) vorhanden. Beide Häuser sind durch den Keller verbunden. Oma hat gekocht und mit Opa wurde gebastelt. In Omas Hälfte war ich seit 10 Jahren nicht mehr, sie wurde nach ihrem Tod vermietet. Der Geruch im Keller ist noch immer der meiner Kindheit. Seit 26 Jahren wohne ich nicht mehr in meiner Heimatstadt und auch ich muss mir die Frage stellen, ob ich meinen Lebensabend irgendwann als Rentner nicht doch wieder genau dort verbringen möchte. Die Großstadt wird mir so langsam zu laut…

    • Sandmann sagt:

      Ay Michael,

      danke für deinen lieben, langen Kommentar. Guck, dann ist Facebook ja doch noch zu was gut 😉
      Tatsächlich klingt vieles von dem, was du schreibst, ähnlich wie meine Geschichte. Das muss grob am Jahrgang und den Lebensumständen liegen. Schön. Sehr schön zu lesen, und den Keller deiner Oma habe ich regelrecht vor Augen und vor der Nase…

      Ob ich wirklich meiner Uelzen Sehnsucht irgendwann nachgebe? Wir werden sehen. Fakt ist, dass ich gern als Rentner ein eigenes, kleines Häuschen hätte. Und das kann man in Kiel schlicht nicht bezahlen. In Uelzen indes schon. Und ich habe noch gute Freunde da. Hm. Wir werden sehen, was das Leben noch für Überraschungen bietet 😊

      Ich wünsche dir noch viele gute Stunden mit meinen Geschichten (die Uelzener Weihnachtsgeschichten sind besonders schön) und freue mich, noch was von dir zu „hören“ – also zu lesen.
      Ersma
      Sandmann

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